Splitternest
las von einer Insel, die den Wellen entstiegen war; von einer zerrissenen Küste, gegen die das Meer brandete. Er las von einem Schiff, das die stürmische See durchpflügte, unbekümmert vom heulenden Wind. Er las von Sternengängers Ankunft auf einer neuen Welt, die er den Menschen geschenkt hatte.
»Ich höre dich gut«, seufzte Sternengänger. »Jedes Wort. Jede Silbe.«
Aus den Augenwinkeln sah Baniter, wie sich der Zauberer über den Tisch beugte. Dort lag, mitten auf der Tafel, der nackte Körper eines Knaben. Er atmete friedlich. Dünne, kaum sichtbare Drähte fesselten seinen Leib, das Gesicht glänzte wie aus Gold. Alles an ihm wirkte undeutlich, durchscheinend, er war wie verblassender Nebel … und schwebte! Unsichtbare Hände hielten ihn in der Luft fest, hoben ihn in die Höhe, so dass Sternengänger ihn berühren konnte.
Der Zauberer streichelte behutsam den Kopf des Kindes, wischte eine feine Blutspur fort, die aus einem der Nasenlöcher rann.
»Du hast genug gelitten. Lass los, kleiner Laghanos. Lass die Sphäre hinter dir.«
Die silbernen Ketten an seinen Handgelenken schmolzen. Zäh tropfte das Silber herab und traf zischend auf die Tischplatte. Der Wind heulte, die Flamme der Kerze zuckte wild und erstarb.
Mondschlund brüllte auf, presste seine Hände gegen die Schläfen.
»Geh nicht!« wimmerte er. »Lass mich nicht allein, Sternengänger!«
Er riss die Augen auf. Sie waren schwarz und schreckerfüllt. Kurz starrte er Baniter an. Dann fuhr er herum, zu dem Schemel, auf dem eben noch Sternengänger gesessen hatte.
Doch der Schemel war leer, Sternengänger fort, und mit ihm der Körper des Knaben. Fortgeweht vom glühenden Wind, erloschen wie die Kerze.
Baniter schlug die Augen nieder. Er wollte Mondschlund nicht ansehen, nicht noch einmal in die grausamen Augen blicken.
Das Buch in seinen Händen fühlte sich kalt an, die Seiten waren durchnässt. Zwischen den Luchszeichen zerrannen die Worte, er konnte sie kaum entziffern. Und doch las er weiter. Er musste die Geschichte weitererzählen.
Seine Stimme war im Verlies kaum noch zu hören.
Auf die Knie, auf die Knie mit dir, Nhordukael, hatte die Stimme geschrien, hoch und schrill, hatte ihn voller Bosheit angetrieben, bis er zusammengebrochen war, über ihm die gleißende Sonne, in seinen blutenden Händen der Eimer, in dem er Tag für Tag Steine geschleppt hatte, sinnlose Arbeit für die Priester, für die Kirche, FÜR TATHRIL, den mächtigen, strafenden Gott, den Magro Fargh ihn zu lieben befohlen hatte, Demut sollst du üben, Staub sollst anfressen und Tathril danken, deinem Herrn … seinem Herrn und Peiniger, der ihn mit nächtlichen Alpträumen heimgesucht hatte, bis die Sphäre über ihn gekommen war wie ein vernichtender Sturm … Tathrils Macht ist die Magie, nun lerne sie in seinem Namen zu nutzen, so hatte Magro Fargh ihm ins Ohr geflüstert und ihm den silbernen Stab in den Mund gestoßen, bis Nhordukael sein eigenes Blut geschmeckt hatte … er spürte noch das Zucken in seinen Fingern, als er zum ersten Mal die Magie gespürt hatte; die Schmerzen, die die Sphäre ihm zugefügt hatte, die Narben auf seinen Händen, Spuren von Magro Farghs Rohrstock … und dann Dunkelheit, nächtliche Stille: Schnee, der vom Himmel herabstob. Eine tobende Menge. Ein Fest, ein zusammenbrechendes Holzgestell, das gierige Brüllen eines Untiers, das mit gespreizten Klauen auf ihn zusprang … die heiße Glut geschmolzener Bronze, die an seinem Leib herabgetropft war und ihn doch unversehrt gelassen hatte … Tathrils Gnade, Tathrils Geschenk!
»Nein«, brüllte Nhordukael. »Tathril ist eine Lüge! Er ist eine Lüge!«
… und er wusste, wer sie in die Welt gesetzt hat: Durta Slargin selbst, der Weltenwanderer … er sah ihn vor sich aus der Gluthitze steigen, ein dunkelhäutiger Mann mit gekräuseltem Bart. Damals hatte er Nhordukael verhöhnt, hatte ihn zu sich in das Feuer ziehen wollen. Aber er hatte standgehalten, sich nicht täuschen lassen …
»All die Lügen!« Nhordukael wehrte sich gegen das Zerren an seinen Armen und Beinen. Wo war er, wo schleiften die Geister ihn hin? Woher kam diese Kälte, die seinen Körper lähmte?
… und er sah seine eigenen Finger, die den Hals eines Greises umschlossen, sah das Messer, das eine faltige Kehle durchschnitt, hörte das letzte Röcheln aus Magro Farghs trockenem Mund. Und hörte eine Stimme, die ihn zur Besinnung rief … Mondschlund, der ihn in der Sphäre willkommen hieß.
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