Splitternest
der hauchdünne Spross einer Wasserpflanze.
Marisa beugte sich über ihn. Die braunen Haare fielen herab und verdeckten ihr Gesicht. Mit einem Stock piekste sie den Krebs. Dieser erstarrte. Seine Scheren blieben im Sand stecken. Er stellte sich tot.
»Tu ihm doch nicht weh«, mahnte Banja. Sie kniete neben ihrer Schwester und sortierte ein paar leere Schneckenhäuser, die sie am Ufer gefunden hatte. »Er hat dir nichts getan.«
Marisa piekste den Krebs noch einmal. »Er soll sich bewegen! Er kriecht so lustig, nie geradeaus, als wüsste er gar nicht, wohin er eigentlich will.« Sie stupste die Fühler des Tiers. Er richtete sie erschrocken auf. Die roten Scheren öffneten sich.
Banja nahm ihr den Stock fort. »Lass das. Er kneift dich nur in die Hand, und dann flennst du.«
Marisa richtete sich empört auf. »Gar nicht. Mich hat noch nie ein Krebs gekniffen.« Sie trat einen Schritt zurück. Hinter ihr rauschte der Dumer. Er strömte um die großen Steinblöcke im Flussbett, schäumte um einen umgestürzten Baumstamm, der in das Wasser ragte. Marisas Schuhe drückten sich in den feuchten Ufersand. Sie betrachtete sie aufmerksam.
»Was meinst du, Banja – wenn einer der Troublinier mit seiner schweren Rüstung hier langgeht, wie tief sinkt er dann ein?« Sie dachte nach. »Ich wette, bis zu den Knien. Oder bis zum Hals.«
Sie sah sich nach den Männern um, die an der Flußbiegung warteten. Sechs Gildenkrieger; sie hatten ihre Helme abgenommen. Kurzes rotes Haar, grobe Gesichter. Sie warfen flache Steine ins Wasser und schienen sich zu langweilen. Dort stand auch Orusit Geneder, ihr Großonkel, ein alter, ausgemergelter Mann. Er blickte zu den Mädchen hinüber.
»Schau, Orusit winkt.« Marisa tastete nach Banjas Hand. »Wollen wir zu ihm gehen?«
»Er sagte, wir sollen uns nicht um ihn kümmern. Er kommt gut allein klar.« Banja strich sich die Haare glatt. Sie waren blond und schulterlang; ihr Gesicht war mit Sommersprossen übersät. »Außerdem will ich nicht zu den fiesen Troubliniern. Sie reißen ja doch nur dumme Witze, wenn sie uns sehen. Über Mama und Papa, über Sinsala, über alles!«
»Ja, lauter dumme Witze.« Marisa konnte die Troublinier nicht leiden. Seit sie in Gehani waren, bot das Leben in der Burg kaum noch Freude. Sinsala war ständig beschäftigt und schlecht gelaunt, Banja und Marisa mussten sich eine Kemenate im Vogtbau teilen, wo auch Onkel Orusit wohnte, und stets mussten sie die Priester der Tathril-Kirche um Erlaubnis fragen, wenn sie am Fluss spielen wollten. Nein, es waren keine schönen Zeiten … Vor allem vermisste Marisa ihre Eltern. Nachts lag sie oft wach und dachte an sie. Früher hatte sich ihre Mutter am Abend an ihr Bett gesetzt, ihr ein Lied vorgesungen oder sich mit ihr über den Tag unterhalten. Und Vater? Marisa vermisste auch ihn; sie liebte Baniter über alles. Doch inzwischen konnte sie sich kaum noch sein Gesicht vorstellen. Nur die klaren, grünen Augen … an die erinnerte sie sich gut. Banja hatte genau dieselben Augen. Ein wenig beneidete Marisa ihre ältere Schwester darum; sie hätte gern selbst grüne Luchsaugen gehabt, oder zumindest die von Sinsala, meerblau und strahlend wie die ihrer Mutter. Marisas Augen aber waren braun und gesprenkelt, und viel zu klein, wie sie fand.
Sie beugte sich über den Fluss. Das Wasser strömte schnell in diesen Tagen, es war unruhig und verzerrte ihr Spiegelbild. Der Dumer floss gen Osten, in die troublinischen Moore, bis nach Taruba. Dort nannten die Leute ihn den Trumer, hatte Sinsala einmal erzählt, und Marisa hatte darüber gekichert. Und sie hatte sich ausgemalt, was für komische Leute diese Troublinier doch sein mussten, wenn sie einfach einen Fluss umbenannten.
Nun hatte sie diese Leute kennen gelernt. Erst waren Flüchtlinge gekommen, Hunderte, die über die Grenze nach Ganata geströmt waren und sich am Stadtrand niedergelassen hatten: verängstigte Männer und Frauen, die vor dem harten Regiment des Gildenrats geflohen waren. Dann, nach der Krönung von Uliman Thayrin, waren troublinische Priester in Gehani erschienen, auf Befehl des Kaisers. Und da Marisas Eltern fort gewesen waren – erst in Thax und später in Vara, der Heimatstadt der Geneder –, hatte niemand etwas gegen sie ausrichten können. Sie bestimmten nun über Gehani, und ihre düsteren Predigten machten Marisa Angst.
»Ich will, dass sie weggehen«, sagte sie leise. »Sie sollen aus Gehani verschwinden, zurück in ihr Troublinien. Von mir
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