Splitternest
in deine Augen sehen, dann würde ich erkennen, dass auch du betrogen wurdest – von ihm!«
Sie schrie die letzten Worte in den Wind. Dann fuhr sie herum und starrte auf den Knaben, der unweit von ihr an der Reling stand. Golden funkelte seine Maske; Sporne tasteten nach den Sphärenströmen, bebten wie die Segel der Barke, und der Mund formte ein Lächeln – das unschuldige Lächeln eines Kinds.
Aber er war kein Kind. Jundala hatte es sogleich gespürt, als er vor wenigen Stunden auf der Barke erschienen war. Die Südsegler hatten ihn empfangen, ihn mit dunklen Reimen gepriesen, und der Schiffsjunge Mhadag hatte ihm die Karte von Yuthir überreicht, damit er sie betrachten konnte: das zerschlissene Pergament, auf dem die Küsten des neuen Kontinents verzeichnet waren. Laghanos … mit diesem Namen hatte er sich ihnen vorgestellt; er, der aus dem Nebel herabgestiegen war, den silberne Klauen auf ihr Schiff getragen hatten und dessen Maske die Sphäre beherrschte.
»Siehst du das, Jundala Geneder? Dort stehen sie am Ufer und warten auf mich.« Der Junge, der einst Laghanos gewesen war, beobachtete die Stege. Auf ihnen hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, Gyraner mit weizenblonden Haaren. Es waren Krieger; sie trugen Waffenröcke und Langschwerter. An ihrer Spitze stand ein magerer Mann in einer grauen Robe.
»Ich wünschte, Mondschlund wäre hier und könnte mit eigenen Augen sehen, wozu die Menschen fähig sind«, fuhr der Junge fort. »Die Legende von meinem neuen Kontinent ist so mächtig, dass sie aus eigenem Antrieb zu ihm segeln. Wie stark ist der menschliche Wille!«
»Nicht so stark, als dass du ihn nicht brechen könntest«, antwortete Jundala. »Du führst uns zum neuen Ufer, ohne uns zu verraten, was uns dort erwartet.«
Der Junge wandte ihr den Kopf zu. Die goldenen Sporne der Maske formten einen Dorn, der wie ein giftiger Stachel in seinem Gesicht zuckte. »Ich reiche den Menschen die Hand, und sie ergreifen sie dankbar. Die Gyraner konnten sogar ohne meine Hilfe zum neuen Land übersetzen, allein mit der Macht des Schwarzen Schlüssels …«
»… den sie aus den Händen der Südsegler erhielten.« Jundala konnte sich an der Reling festhalten; sie taumelte. »Du hast uns die Augen herausgerissen, willst uns deine Sicht der Welt aufzwingen.«
Der Stachel der Maske zuckte gefährlich. »Nein, ich habe euch die Augen geöffnet! Mondschlund war es, der euch blenden wollte. Ohne mich wärt ihr seine Sklaven, auf ewig gefangen in seinem Verlies. Denn ich konnte Kahida nicht zwingen, ihn zu stürzen. Aber euch kann ich retten, indem ich euch eine neue Welt schenke. Dieses Mal werde ich keine Fehler begehen.« Der Junge, der einst Laghanos gewesen war, lächelte. »Ich werde jeden retten, der es verdient. Auch deine Kinder, Jundala. Das habe ich deinem Mann versprochen.«
»Baniter?« Sie flüsterte seinen Namen, strauchelte, sank zu Boden. Die Nähe der Maske raubte ihr alle Kraft.
»Ja, Baniter Geneder … auf ewig gefangen in der Sphäre, verflucht dazu, Mondschlund zu dienen und über die Stadt aller Städte zu herrschen. Ihm kannst du nicht helfen. Aber deine Kinder – sie leben. Ich werde dich zu ihnen bringen.«
»Warum lügst du mich an?« flüsterte sie. »Ich weiß, dass ich sie verloren habe. Ich kann nicht nach Gharax zurückkehren.«
Die Maske funkelte hell. »Sei nicht töricht. Der Schlüssel hat dir die Augen geöffnet; du siehst die Spuren, die ich in der Sphäre zurückgelassen habe. Sie werden dir den Weg zeigen. Du wirst nach Gharax zurückkehren, um deine Kinder zu holen – und ich werde mein Versprechen einlösen.«
Jundalas Herz zerriss fast vor Schmerz; sie wollte weinen und konnte es doch nicht, denn ihre Augen waren kalt und tot. Sie sahen nur das, was der Knabe ihnen zu sehen erlaubte … rotglimmende Fußspuren, die sich hinter seinen Fersen über die Barke zogen, über die Reling, hinaus auf das Wasser, als wären die Wellen aus Wachs, in das er seine Schritte eingeprägt hatte.
»Du erkennst sie, nicht wahr?« Der Junge stand nun vor ihr. »Dies ist die Macht des Schwarzen Schlüssels. Er führt uns und lenkt uns; er erschafft die Sphäre und hilft uns, sie zu beherrschen. Ich habe lange gebraucht, um seine Magie zu verstehen, und am Ende unterschätzte ich sie doch. Aber dieses Mal will ich vorsichtiger sein. Dieses Mal werde ich euch Menschen dazu zwingen, die Sphäre zu achten.« Er reichte ihr die Hand. »Steh auf, Jundala. Folge meiner Spur, und kehre
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