Splitterwelten 01 - Zeichen
durchkreuzt von einem senkrecht verlaufenden Balken.
»Glaubt Ihr, dass Fürst Magnusson dies gutheißen würde?«, erkundigte sich Kalliope flüsternd.
Es war Nacht. Cedara und sie waren zurück in dem Gewölbe, in dem sich der Mord an Meisterin Glennara ereignet hatte – doch dieses Mal waren sie allein gekommen.
»Nein«, gab Cedara achselzuckend zu, »aber er wird niemals davon erfahren.«
»Misstraut Ihr Erik? Er ist ein wenig anmaßend, aber er scheint ein zuverlässiger Diener zu sein.«
»Vor allen Dingen«, entgegnete die Meisterin, die sich auf ihre Knie niedergelassen hatte und den von dunklen Flecken übersäten Boden untersuchte, »ist er Fürst Magnussons Gefolgsmann, und du darfst sicher sein, dass er ihm alles berichten wird, was wir tun. Wenn wir ungestört Erkenntnisse sammeln wollen, so haben wir keine andere Wahl, als uns auf eigene Faust umzusehen.«
Kalliope nickte. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, sich nächtens durch das düstere Gemäuer zu schleichen, und wäre es nicht ihre Meisterin gewesen, so hätte sie den Weg zur alten Fürstenhalle auch gar nicht mehr gefunden. Cedara jedoch hatte sich jeden Gang, jede Treppe und jede Abzweigung genau eingeprägt.
»Was ist mit dem Wächter?«, fragte sie in Erinnerung an den Krieger, der vor der Tür ihrer Turmkammer postiert worden war.
»Er wird eine Weile lang schlafen«, entgegnete Cedara gleichmütig. »Wenn er erwacht, wird er sich an nichts erinnern. Noch nicht einmal an deine Schönheit, obwohl sie ihn dazu brachte, den Trank einzunehmen.«
Kalliope sah beschämt zu Boden. Den Regeln der Schwesternschaft zufolge war Schönheit kein erstrebenswertes Gut. Nicht nur, dass sie vergänglich war und trügerisch, sie weckte auch Begehrlichkeit und gefährdete das innere Gleichgewicht. Dass sie bisweilen auch von Nutzen sein konnte, hatte Kalliope an diesem Abend zum ersten Mal erfahren …
»Sieh her«, sagte ihre Meisterin plötzlich und winkte sie heran.
»Was habt Ihr entdeckt?«
Statt zu antworten, erhob sich Cedara vom Boden und streckte Kalliope etwas entgegen. Es war eine kleine Greifzange aus Messing, die einige schwarze Haare hielt.
»Von wem stammen die?«, wollte Kalliope wissen.
»Von einem Menschen jedenfalls nicht, das steht fest, dazu sind sie zu dick und zu borstig. Schon viel eher vom Fell eines Tieres …«
»… oder eines Animalen«, fügte Kalliope hinzu, die mit Unbehagen an das denken musste, was Erik über die Wolfsmenschen berichtet hatte, die furchterregenden Ureinwohner Jordråks.
»Genauso ist es«, stimmte ihre Meisterin zu. Sie öffnete den Beutel, den sie am Gürtel trug, und entnahm ihm ein kleines Döschen, in das sie die Haare gab.
»Demnach hat Erik also recht? Der Mörder war ein Animale?«
»Oder wir sollen genau das annehmen«, entgegnete Cedara. »Die Haare allein beweisen noch gar nichts. Ebenso gut könnte sie ein anderer hinterlassen haben, um den Verdacht auf die Lupiden zu lenken. Es ist kein Geheimnis, dass die Gilde nichts für Tiermenschen übrig hat. Möglicherweise wollte sich jemand diese Tatsache zunutze machen. Jetzt hilf mir, die Wände abzusuchen.« Sie ließ das Döschen und die Pinzette im Beutel verschwinden und holte stattdessen einen kleinen Hammer hervor.
»Die Wände? Wonach?«
»Nach einem zweiten Eingang in die Halle.«
»Einem zweiten Eingang? Aber Erik sagte doch …«
»Hast du sein Zögern nicht bemerkt?«, fragte Cedara, während sie die Wand prüfend abzuklopfen begann. »Der Junge verheimlicht uns etwas, das steht fest.«
Das rechte Ohr ans Mauerwerk gelegt, klopfte sie weiter, und Kalliope ging daran, die Wand auf der anderen Seite der Halle zu untersuchen. Ein strenger Geruch stieg ihr in die Nase, aber sie beachtete ihn nicht weiter. Mit einem Gesteinsbrocken, der sich aus der Mauer gelöst hatte, begann auch sie, vorsichtig zu klopfen und nach einem Hohlraum hinter der Wand zu suchen.
Sie war noch nicht weit vorgedrungen, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie über eine der dicken Säulen, die die Hallendecke trugen, ein Schatten huschte.
Im ersten Moment dachte sie sich nichts dabei, weil sie annahm, es wäre ihre Meisterin, deren Umrisse vom Licht der Fackeln an den Pfeiler geworfen wurden. Aber dann fiel ihr auf, dass das Klopfen von Cedaras Hammer genau aus der entgegengesetzten Richtung drang – Cedara konnte also unmöglich die Urheberin des Schattens gewesen sein!
»Meisterin …?«
Kalliope fuhr herum – just in dem Moment, als das
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