Splitterwelten 01 - Zeichen
einsame Seele in einem Land der Verlorenen. Es bedeutete auch, dass, wer immer hinter der Ermordung Glennaras und Meisterin Cedaras steckte, es womöglich auch auf ihr Leben abgesehen hatte. Und dies wiederum hieß, dass Kalliope niemandem auf Jordråk mehr trauen konnte, denn jeder einzelne Bewohner dieses Weltensplitters, vom geringsten Knecht bis hinauf zum Fürsten, mochte der Mörder der beiden Gildeschwestern sein.
Zwar deutete alles darauf hin, dass Cedara wie auch Glennara das Opfer eines Skolls, eines Wolfsmenschen, geworden war. Aber Kalliope musste immerzu an die Worte ihrer Meisterin denken, die die Vermutung geäußert hatte, jemand hätte womöglich nur den Verdacht auf die Skolls lenken wollen. Was also war die Wahrheit?
Am liebsten wäre Kalliope augenblicklich nach Ethera zurückgekehrt und hätte sich in den Schutz der Gemeinschaft geflüchtet, wo man Verständnis für sie und ihren schrecklichen Verlust haben würde. Sie sehnte sich nach ihrer Freundin Prisca, die ihr als einzige geblieben war – aber daraus würde nichts werden. Auch wenn Cedara sie mit ihren letzten Atemzügen zur Levitatin ernannt hatte – Kalliope verfügte noch nicht über die Kraft, die nötig war, um ein Schiff auf einer solch langen Strecke durch das Sanktuarion zu tragen; selbst wenn sie Kurs auf die nächstgelegene Gildevertretung nahm, war die Entfernung noch viel zu weit, als dass Kalliope sich zugetraut hätte, sie zu überbrücken – ganz abgesehen davon, dass Kapitän Baramiro und seine Leute sich wohl kaum auf ein solches Wagnis eingelassen hätten.
So hatte sich Kalliope darauf beschränkt, zwei Falken zu entsenden, die die Nachricht von Cedaras Ermordung nach Ethera tragen würden. Sicher würde der Rat der numeratae daraufhin eine Abordnung entsenden, die nach Jordråk kommen und die Aufgabe haben würde, den Mord zu untersuchen und Kalliope nach Hause zu holen – aber bis es so weit war, würde noch eine lange Zeit vergehen. Zeit, von der Kalliope beim besten Willen keine Vorstellung hatte, wie sie sie überstehen sollte. Am besten, so dachte sie, während sie gedankenverloren in die Flammen starrte, würde es sein, wenn sie sich in ihrer Turmkammer einschloss und darauf wartete, dass die Stunden vergingen.
Die Tage.
Die Wochen.
Es war eine eisige Nacht auf Jordråk, und auch das Feuer, das im Innenhof der Festung loderte, vermochte Kalliope nicht zu wärmen.
Binnen zweier Tage, so hieß es, musste die sterbliche Hülle einer Gildeschwester den Flammen übergeben werden, dann – und nur dann – würde ihre unsterbliche Seele in der Urkraft der Schöpfung aufgehen und Erfüllung finden, statt als ruheloser Geist durch das Chaos und die ewige Dunkelheit des Nox zu irren.
Gewöhnlich, wenn Schwestern zu Grabe getragen wurden, am Ende eines langen Lebens, hatte Kalliope aus dieser Aussicht Trost geschöpft. Eins zu werden mit der Urmutter und somit Teil des großen Gleichgewichts zu werden, das sich jede Gildeschwester nicht nur für sich selbst, sondern auch für jede ihrer Mitschwestern wünschte.
Jedoch nicht in Cedaras Fall.
Kalliopes Meisterin war lange vor ihrer Zeit gestorben, und auch nicht, weil die Natur es so gewollt hatte, sondern weil ein grausamer Mörder sie getötet hatte.
Mit unter Tränen verschwimmendem Blick starrte Kalliope in die Flammen, dorthin, wo noch vor Kurzem Cedaras leblose Gestalt gelegen hatte. Sie selbst hatte es übernommen, den Leichnam ihrer Meisterin zu waschen und von Blut und Schmutz zu reinigen. Anschließend hatte sie ihr eine frische Robe angelegt, die in dunklem Blau gehalten war und wie die meisten ihrer Gewänder von ihrer Heimatwelt Bryca stammte. Die Feder, die Cedara im Haar getragen hatte, hatte Kalliope sich selbst aufs Haupt gesteckt, eine Geste des Respekts und ein sichtbares Zeichen dafür, dass sie ihre Meisterin niemals vergessen würde.
Wie es von einer Schülerin erwartet wurde, hatte sie Cedara bis zuletzt begleitet. Sie war dabei gewesen, als man den Leichnam hinunter in den Hof getragen hatte, und als man ihn auf das Lager aus Reisig bettete, das Thor Magnussons Knechte aufgeschüttet hatten, hatte Kalliope dafür gesorgt, dass es behutsam und vorsichtig geschah, geradeso, als könnte ihre Meisterin noch immer spüren, was ihr widerfuhr.
Zu Hause auf Ethera wurde eine numerata in allen Ehren bestattet, inmitten der Gemeinschaft der Schwestern, begleitet von Gesängen und vom Duft wohlriechender Kräuter, die ihr den Weg in die Ewigkeit
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