Splitterwelten 01 - Zeichen
aufgrund seiner noch immer gespannten Zunge nicht fähig, auch nur ein Wort zu sprechen.
»Schluss jetzt mit dem Unfug«, ordnete Croy an. Er bückte sich zu Wits hinab und löste die Zunge um seinen Hals, als wäre sie ein loser Strick. Dann packte er den Rattenmann und riss ihn zu sich empor, dass seine Füße zwei Ellen über dem Boden schwebten. »Jetzt antworte«, knurrte er nur. »Was hast du hier zu suchen?«
»Wits unschuldig«, beteuerte der Rattenmann. Panik sprach aus seinen blutunterlaufenen Augen, die groß und gelb waren wie Spiegeleier. »Nur getan, was Häuptling befohlen!«
»Danach habe ich nicht gefragt«, ließ Croy ihn unbarmherzig wissen. »Ich will wissen, warum du im Kerker bist.«
»Wits gefasst, als zurück zu Stamm«, würgte der Rattenkrieger, während er hilflos mit den kurzen, in der Luft baumelnden Füßen strampelte.
»Warum das? Die Rattenkrieger kennen doch Wege, die die Aufseher nicht kennen.«
»Schon«, gurgelte er, begleitet von heftigen Schluckgeräuschen, »aber viele Soldaten. Überall Soldaten. Viel mehr als sonst.«
»Woher sind sie gekommen?«
»Wits nicht wissen.«
»Sind sie unseretwegen hier?«
»Nichts wissen.«
»Vielleicht solltest du ja jemand anderen fragen, Katzenmensch«, sagte plötzlich jemand.
Croy fuhr herum, wobei er Wits einfach fallen ließ. Der Rattenmann fiel auf die Füße und kippte um, blieb neben Jago liegen, der damit beschäftigt war, seine ausgeleierte Zunge wieder einzurollen, und ihn giftig anblitzte. Auch Kieron hatte sich blitzschnell umgewandt, nur um sich abermals einem vertrauten Gesicht gegenüberzusehen, das er freilich in ebenso schlechter Erinnerung hatte wie das des Rattenmannes.
Shen …
»Sieh an«, sagte die junge Frau mit dem pechschwarzen Haar und der Augenklappe. »Wer hätte gedacht, dass wir uns so bald wiedersehen? Ich hatte euch für tot gehalten.«
»Wir dich ebenso«, versicherte Croy, der nicht besonders überrascht zu sein schien. Anders als Kieron, der aufgesprungen und zu dem Pantheriden geeilt war, die Hände zu Fäusten geballt, um ihm nötigenfalls im Kampf beizustehen. Shen blieb jedoch unbeeindruckt.
»Weißt du, Katzentier, eigentlich hätte ich mir denken können, dass die Ratte zu dir gehört«, spottete sie, mit dem Kinn auf Kieron, den lallenden Jago und den noch immer um Atem ringenden Wits deutend. »Bei all den Verrückten, mit denen du dich umgibst …«
Der Pantheride sah grinsend zu Shens Begleitern hinüber, die sich genau wie bei ihrer ersten Begegnung um ihre Anführerin tummelten – der wortkarge Hüne Darg und der pelzige, spitzschnäuzige Opussum.
»Schon gut.« Sie winkte ab und zuckte mit den Schultern. »Ich denke, wir haben alle bessere Zeiten gesehen. Sonst wären wir wohl kaum hier gelandet.«
»Was uns betrifft, hätte es so weit nicht zu kooo- zu kommen brauchen«, ereiferte sich Kieron, den ihre selbstgefällige Art ärgerte. »Wenn ihr unseren Flugdrachen nicht geschhh-gestohlen hättet …«
Shen wandte sich ihm zu. Ihr verbliebenes Auge musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle. »Schnee von gestern«, sagte sie achselzuckend. »Der Drache wurde von den Felsmassen erschlagen, wir haben ihn also auch nicht mehr.«
»Aaa-aber wir hätten ihn noch, wenn ihr uns nicht beraubt hättet«, erwiderte Kieron, dem die seltsame Logik der Diebin nicht recht einleuchten wollte. »Das ist nicht gerecht!«
»Nicht gerecht?« Ihr Blick wechselte von Herablassung auf Erstaunen, und obwohl sie nur wenige Zyklen älter sein konnte als er, hatte er das Gefühl, dass sie ihm an Erfahrung weit voraus war. »Wer hat gesagt, dass es im Sanktuarion gerecht zugeht?«
»Fest steht, dass ihr uns beee-bestohlen habt.«
»Und? Was willst du nun machen?« Sie legte herausfordernd den Kopf schief. »Kämpfen?«
»Der Junge hat recht mit allem, was er sagt«, beschied Croy ihr mit einem Seitenblick. »Aber es lohnt nicht, sich um Wasser zu streiten, das längst verschüttet wurde.«
»Sieh an«, konterte sie. »Da scheint jemand schon einmal auf Bazarra gewesen zu sein und die dortigen Weisheiten zu kennen.«
»Genau wie du«, entgegnete Croy, und es hatte den Anschein, als würden sie sich auf eine unausgesprochene und für Kieron auch nicht nachvollziehbare Weise verstehen.
»Vielleicht«, sagte sie, »haben wir ja mehr gemeinsam, als uns bislang klar gewesen ist.«
»Wir und etwas gemeinsam?«, meldete Jago sich nun zu Wort. Der Chamäleonide hatte es geschafft, sich seine malträtierte
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