Splitterwelten 01 - Zeichen
nicht dazu. Denn eine Klinge flog heran, die für den Bruchteil eines Augenblicks im Laternenschein aufblitzte, ehe sie sich mit furchtbarer Wucht in die Kehle des Wächters bohrte. Der Schrei, den er hatte ausstoßen wollen, blieb dem Posten im Halse stecken, zusammen mit dem Dolch. Er wankte, den Speer ließ er fallen. Röchelnd tastete er nach dem Fremdkörper in seiner Kehle, als ein dunkler Schatten heranwischte und sich auf ihn stürzte. Was weiter geschah, konnte Kieron nicht mehr beobachten, denn im nächsten Moment war er auf seinem Turm nicht mehr allein.
»Sieh an, wen haben wir denn da?«
Der Junge erstarrte, als die hässliche Schuppenfratze des zweiten Echsenkriegers über der Plattform auftauchte. Der Kerl schien noch nicht mitbekommen zu haben, was seinem Kameraden widerfahren war, und so blitzten seine Augen in kalter Mordlust, während er seinen Speer mit beiden Klauen packte und damit nach Kieron stocherte.
»Was hast du hier herumzuschnüffeln, hä? Das werde ich dir gleich austreiben, Menschlein!«
Kieron, der noch immer unterhalb der Brüstung kauerte, sah die mit Widerhaken versehene Speerspitze auf sich zukommen.
Der Echsenmann schien seine Angst zu fühlen. Er lachte kehlig und wollte zustoßen – als er plötzlich innehielt. Ein Blutschwall schoss über seine wulstigen Lippen, und eine Klinge war in seinem weit aufgerissenen Rachen zu sehen, die jemand mit derartiger Wucht in sein Genick gerammt hatte, dass sie vorn wieder ausgetreten war. Ein Zischen, das sich anhörte, als würde Luft aus einem Blasebalg entweichen, war das Letzte, das der Wächter von sich gab, dann stürzte er seitlich von der Leiter und verschwand in der Tiefe. Statt seiner erschienen die dunklen Züge Croys über der Plattform.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Panthermann.
Kieron nickte krampfhaft, zu Worten war er nicht fähig.
»Dann komm.«
Statt die Leiter zu benutzen, sprang der Pantheride in die Tiefe und kam geschmeidig federnd auf den Planken auf. Kieron brauchte sehr viel länger, um hinabzugelangen, so sehr zitterten seine Arme und Beine.
Unten standen zwei Säcke aus schwerer Jute, die mit einem nur zu bekannten Emblem versehen waren – dem Zeichen des Handelskontors. Ohne die leblosen Körper, die rings umher lagen, noch eines weiteren Blickes zu würdigen, schulterte Croy die beiden Säcke und wandte sich zum Gehen – und Kieron begriff.
Der Panthermann war, seiner eindrucksvollen Erscheinung und seinen erstaunlichen Fähigkeiten zum Trotz, nichts weiter als ein gewöhnlicher Dieb! Das Gebäude, in das er eingedrungen war, war ein Depot eines ebenso mächtigen wie einflussreichen Handelskontors! Und, um den Irrsinn komplett zu machen, er, Kieron, hatte ihm auch noch dabei geholfen!
Die Erkenntnis traf den Jungen so heftig, dass er tatsächlich wankte und Mühe hatte, sich auf den ohnehin schon zittrigen Beinen zu halten.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Croy.
»D-D-Dieb«, stellte Kieron unumwunden fest.
»Ihr Menschen merkt aber auch alles«, konterte der Pantheride mit einem breiten Raubtiergrinsen. »Kein Wunder, dass ihr in der Nahrungskette ganz unten steht. Und nun lass uns verschwinden, die Nacht auf Madagor hat Augen und Ohren.«
Das brauchte Kieron nicht zweimal gesagt zu werden. Dem Panthermann hinterdrein huschte er von der Plattform und kletterte hinauf ins dichte Geäst des Shantik-Baumes.
Und obschon er sich elend fühlte und von Furcht getrieben, verspürte er – zum allerersten Mal in seinem Leben und auch nur für einen ganz kurzen Augenblick – einen verwegenen Hauch von Freiheit.
5. Kapitel
Der Tag des Aufbruchs war angebrochen – wenn auch anders, als Kalliope es erwartet hatte.
Gegen Morgen war sie schließlich doch noch in unruhigen Schlaf gefallen, der abrupt endete, als die Glocke im Ostturm zur Morgenmeditation rief. Kalliope hatte erwartet, Prisca anzutreffen, doch die Freundin war früh aufgestanden und hatte die Kammer bereits verlassen. Kalliope bedauerte es. Nach allem, was in der vergangenen Nacht vorgefallen war, hätte es noch einige Dinge gegeben, die sie Prisca gerne gesagt hätte. Nun gab es vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu.
Verwirrung war das Wort, das Kalliopes Gemütszustand an diesem Morgen am ehesten kennzeichnete. Verwirrung über das, was geschehen war, Verwirrung über das, was vor ihr lag. Die Furcht vor der ungewissen Zukunft mochte Prisca ihr ein wenig genommen haben, dafür war ihr Inneres nur noch mehr in Aufruhr
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