Splitterwelten 01 - Zeichen
»Im Namen der Erhabenen Schwester wünsche ich Euch Glück und Erfolg für die bevorstehende Unternehmung. Möge das Wohlwollen der Urmutter Euch günstige Winde bescheren.«
»Und möge das Wohlwollen der Urmutter Euch, die Ihr zurückbleibt, Schutz und Gleichgewicht bescheren«, antwortete Cedara mit der offiziellen Formel, und alle vier verbeugten sich voreinander, wie das Protokoll es verlangte.
Kalliope verspürte Enttäuschung.
Sie hatte geglaubt, dass Prisca und ihre Meisterin aus freien Stücken ans Tor gekommen wären, um sich von ihnen zu verabschieden. Doch nicht ihr eigener Wille, sondern lediglich eine Anordnung der Erhabenen Schwester schien sie dazu bewogen zu haben, ein offizieller Anlass.
Einen Augenblick lang standen die beiden numeratae und ihre Schülerinnen einander schweigend gegenüber, und Kalliope hatte das Gefühl zu platzen. So viel hätte es gegeben, das sie hätte sagen und für das sie hätte danken wollen, so viel, das sie in den letzten Jahren für selbstverständlich gehalten hatte und dessen Wert ihr nun erst bewusst wurde, da sie davon Abschied nehmen musste.
Cedara räusperte sich leise, und für einen Moment hatte es den Anschein, als wollte sie das Schweigen brechen. Aber ihr Mund blieb verschlossen, ebenso wie Priscas, und so beschränkte sich Kalliope darauf, ihrer Freundin abermals einen Blick zuzuwerfen. Zwar fand er diesmal sein Ziel, jedoch war keine Reaktion in Priscas blassen Zügen zu erkennen.
Kein Zucken im Augenwinkel.
Nicht einmal der Anflug eines Lächelns.
Kalliope hielt es nicht mehr aus. Sie musste wissen, was ihre Freundin dachte, wie sie zu ihr stand nach jener Nacht, in der sie einander so nahe gewesen waren wie …
»Leb wohl, Schwester«, sagte sie leise und legte ihre Hand aufs Herz, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
Ein knappes Nicken Priscas war die einzige Reaktion.
Keine freundliche Geste.
Kein Wort des Abschieds.
Im nächsten Moment war die Begegnung vorüber. Meisterin Harona wandte sich ab, und Prisca folgte ihr, ohne ihre Freundin auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Kalliope schaute ihr nach und konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Die Trennung schmerzt«, bestätigte Cedara leise.
Kalliope ließ ihren Blick noch einmal an den Türmen und Mauern emporschweifen, die über eine so lange Zeit hinweg ihr Heim gewesen waren, den Dächern und Kuppeln, die im Licht der untergehenden Sonne golden glänzten. In vollendeter Symmetrie reckten sie sich in den orangeroten Himmel, ein steingewordenes Abbild vollkommener Ausgewogenheit. Kalliope konnte sich nicht daran sattsehen. Erst als Cedara sie sanft an der Schulter fasste und mitzog, riss sie sich endlich davon los und ging weiter.
Der Weg zum Kai erwies sich als Reise durch die Vergangenheit. Grillen summten in der lauen Abendluft, die nach Minzblüten und Lavendel roch, und es ging vorbei an all jenen Gebäuden, in denen Kalliope eine glückliche und sorglose Kindheit verbracht hatte – vom Tempel der Urmutter, von der alles Leben stammte, über die Hallen der Erleuchtung und die Quellen der Ewigkeit bis hin zu den Säulen der Weisheit. Diese Zeit, das konnte Kalliope deutlich fühlen, war unwiderruflich vorüber – und mit ihr auch ihre Kindheit.
Die wenigen Menschen, die um diese Zeit noch unterwegs waren – zumeist Dienerinnen, die Besorgungen zu machen hatten, sowie Gildeschwestern, die in den Palast zurückkehrten –, nahmen kaum von ihnen Notiz. Gleichmut zu wahren, galt allen Gildeschwestern als das höchste Ideal – jenen Gleichmut, den Kalliope verloren hatte angesichts des Trennungsschmerzes und der Ungewissheit. Immer wieder rief sie sich selbst zur Ordnung, schalt sich eine ängstliche Närrin – aber die Unruhe, die sie erfüllte, war zu stark, als dass sie ihr einfach Einhalt hätte gebieten können. Zu viele Fragen bedrängten sie, zu viel, das sie nicht verstand.
»Meisterin?«, wandte sie sich an Cedara. »Vorhin, als wir uns von Meisterin Harona verabschiedeten …«
»Ja?«
»Ich hatte das Gefühl, dass Ihr noch etwas sagen wolltet.«
Cedara sah sie nicht an. »Tatsächlich?«
»Ja, Ihr schient einen Augenblick zu zögern, und dann …« Kalliope nahm all ihren Mut zusammen. »Habt Ihr Euch aus freien Stücken zu dieser Mission gemeldet?«
»Was?« Cedara fuhr herum.
Kalliope biss sich auf die Lippen, konnte selbst nicht glauben, dass sie den Gedanken ausgesprochen hatte. »Verzeiht, Meisterin.
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