Splitterwelten 01 - Zeichen
Gildeschwester, die wie immer einen verwahrlosten Anblick bot. Nicht nur, dass ihre Robe verdreckt und an unzähligen Stellen ausgebessert war und dass ihr graues Haar, das unter der Kapuze hervorquoll, in schmutzigen Strähnen hing. Ihr faltiges, an altes Leder erinnerndes Gesicht, aus dem ein von Tränensäcken bedrängtes, wässriges Augenpaar blickte, war auch von roten Flecken gezeichnet. Zusammen mit dem strengen Geruch, der die alte Meisterin umgab, verrieten sie den häufigen Griff zum Branntwein, obschon jede Form von Alkohol den Gildeschwestern streng verboten war.
Alkohol verwirrt die Sinne.
Alkohol stört das innere Gleichgewicht …
»Verzeiht, Gildemeisterin, ich … ich …« Kalliope wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sosehr sie sich insgeheim eine persönliche Verabschiedung gewünscht hatte, so bestürzt war sie darüber, dass ausgerechnet Meisterin Audra erschienen war.
Audra die Verrückte, wie sie genannt wurde.
Die Ausgestoßene …
»Woher wusstet Ihr überhaupt …?«
»Du meinst, wie ich von der Mission deiner Meisterin erfahren konnte?« Das wässrige Augenpaar bedachte Kalliope mit einem fragenden Blick. »Sagen wir einfach, dass ich mehr weiß, als diese Heuchlerinnen jemals zugeben würden«, erklärte Audra mit zahnlosem Grinsen. Als Kalliope ob dieser Wortwahl die Brauen hob, musste die Alte kichern.
»Nichts ist, wie es scheint, Mädchen, das solltest du wissen. Bisweilen lohnt es sich, die Dinge zu hinterfragen. Auch deine Meisterin hat das einst gewusst – bevor sie ebenfalls zu einer Heuchlerin wurde.«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach Kalliope entschieden. »Meisterin Cedara ist eine große Frau.«
»Von unten betrachtet, wirkt jeder groß.«
»Warum seid Ihr gekommen?«, wollte Kalliope wissen. »Um meine Meisterin und mich zu beleidigen?«
»Es macht mir Freude«, gab die kauzige Alte unumwunden zu, »aber es ist nicht der einzige Grund. Hier«, schnaufte sie und begann, in den weiten Falten ihres zerschlissenen Gewandes herumzuwühlen, »das ist für dich.«
Sie zog ein in Wildleder gewickeltes Päckchen hervor, das sie Kalliope hinhielt.
»Für … für mich?«
»Das sagte ich doch gerade, oder nicht?«
»Aber wofür?«, wollte Kalliope verwundert wissen.
Audras zahnloser Mund dehnte sich erneut zu einem Grinsen. »Dafür, dass du mir manchmal zugehört hast«, erwiderte sie. »Ich mag mich irren, aber ich denke, dass du anders bist. Anders als diese blutarmen Kreaturen, die sich Schwestern nennen und doch nur Heuchlerinnen sind.«
Kalliope wusste nicht, was sie mit diesem Lob (sofern es überhaupt eines war) anfangen sollte. Verblüfft wickelte sie das Geschenk aus dem Leder – und hielt unvermittelt einen kleinen, filigran gearbeiteten Glaskörper in den Händen, der die Form einer Spindel hatte und in einen hölzernen Rahmen gefasst war. Das Innere war mit feinem Sand gefüllt, der durch die verjüngte Mitte der Spindel rieselte.
»Was ist das?«, erkundigte sich Kalliope verblüfft, die einen derartigen Gegenstand noch nie gesehen hatte.
»Eine Sanduhr«, antwortete Audra, »ein Stundenglas. In den alten Tagen wurde es benutzt, um die Zeit zu messen.«
»Um die Zeit zu messen«, echote Kalliope nachdenklich, während sie das kunstvoll gearbeitete Stück im Fackelschein betrachtete. Inzwischen war aller Sand von der oberen Hälfte in die untere gerieselt. Kurzerhand drehte die Schülerin die Sanduhr herum, und das Spiel begann von Neuem.
»Ich verstehe«, sagte Kalliope, fasziniert von der genialen Einfachheit der Konstruktion. »Ich danke Euch von ganzem Herzen, Meisterin Audra. Indem es mich daran erinnert, wie rasch die Zeit vergeht, wird das Stundenglas mir helfen, den Aufenthalt in der Fremde zu überstehen.«
»Vielleicht«, räumte Audra ein. »Möglicherweise wird es dich aber auch zu neuen Erkenntnissen führen.«
»Wie meint Ihr das?«
»Das musst du schon selbst herausfinden«, erwiderte die alte Meisterin rätselhaft. »Wenn du so schlau bist, wie ich denke, wird es dir gelingen. Wenn nicht«, fügte sie achselzuckend hinzu, »habe ich nur eine Sanduhr verloren, aber nicht mein Leben.«
Kalliope wollte nachfragen, was die Alte damit meinte, doch in diesem Augenblick erklang die Stimme ihrer Meisterin, die laut und ein wenig ungeduldig ihren Namen rief.
»Ich muss gehen«, sagte Kalliope.
»Offensichtlich«, knurrte Audra – und zu Kalliopes Bestürzung trat sie vor und schlang ihre ebenso kurzen wie kräftigen Arme um
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