Splitterwelten 01 - Zeichen
herab. »Schling dir das um! Rasch!«
Mit klammen und vor Aufregung bebenden Händen nahm Kieron den Strick, formte eine Schlinge und verknotete sie doppelt. Dann schlüpfte er mit dem Oberkörper hindurch und signalisierte, dass er bereit wäre. Croys verwegen grinsende Züge verschwanden aus dem Fackelschein, und das Seil straffte sich.
Kieron biss die Zähne zusammen, als der Strick in Brust und Rücken schnitt. Mit beiden Händen packte er das Seil und versuchte, sich an der aus fauligem Holz bestehenden Kerkerwand abzustützen, während es geradewegs nach oben ging. Der Boden blieb unter ihm zurück und versank in Schwärze. Stück für Stück ging es weiter hinauf, bis zum Ausstieg. Kieron bekam den Rand zu fassen und wollte sich emporziehen, aber seine Kräfte reichten dazu nicht mehr aus. Eine fellbesetzte Pranke streckte sich ihm von oben entgegen, ergriff ihn am Kragen seiner Tunika und zog ihn vollends hinauf. Erschöpft sank Kieron neben der offenen Falltür nieder, schwer atmend und entkräftet, aber unsagbar erleichtert.
»Du ha-a-ast mich befreit«, stieß er hervor.
»Sieht ganz so aus«, erwiderte Croy, während er das Seil einholte und unter seinem Umhang verschwinden ließ. Dann schloss er die Luke und verriegelte sie wieder. »Bis die entdecken, dass du fort bist, sind wir längst verschwunden.«
»Wooo-wohin?«
»Wirst du schon sehen.« Der Panthermann packte ihn und zog ihn zu sich hoch. »Halt dich fest.«
Kurzerhand lud er sich den abgemagerten Jungen auf den Rücken und jagte mit ihm den in das Holz des Shantik-Baumes gebohrten Gang hinab, die Fackel in der einen, einen seiner Dolche in der anderen Klaue. Dabei passierten sie weitere Öffnungen im Boden, die von Falltüren verschlossen waren und unter denen sich fraglos weitere Zellen befanden, in denen noch mehr Gefangene schmachteten, womöglich schon eine lange Zeit. Der Gedanke ließ Kieron erschaudern, während er sich mit aller verbliebener Kraft an das Fell des Pantheriden klammerte, der mit ausgreifenden Schritten den Stollen durchmaß. Wohin Croy ihn brachte, konnte Kieron nicht einmal erahnen, aber er fragte auch nicht. Alles war besser, als in diesem dunklen Loch zu sitzen und auf sein Ende zu warten. Die Dankbarkeit, die er empfand, ließ sich nicht in Worte fassen.
Plötzlich blieb der Panthermann stehen und lud ihn ab. »Dort hinauf«, zischte er und deutete auf eine Öffnung in der Stollendecke, die schräg nach oben verlief und gerade groß genug war, um hindurchzukriechen. Das schwere Eisengitter, mit dem sie wohl einmal verschlossen gewesen war, lag auf dem Boden. Noch ehe Kieron eine Frage stellen konnte, hatte Croy ihn auch schon hochgehoben und schob ihn hinauf, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als weiterzuklettern.
Es war mörderisch. Nicht nur, dass Kieron am Rande seiner Kräfte war – im ebenso harten wie glitschigen Shantik-Holz gab es kaum Unebenheiten oder gar Vorsprünge, die sich als Griffe und Tritte nutzen ließen. Vergeblich versuchte er, sich mit blutenden Fingernägeln festzukrallen – immer wieder verlor er den Halt und wäre abgerutscht, hätte Croy, der ihm unmittelbar folgte, ihn nicht gehalten. Es ging nur langsam voran, und einige quälende Augenblicke lang befürchtete Kieron, sie würden es nicht schaffen. Er bekam Angst in der engen Röhre und hätte um ein Haar begonnen, planlos um sich zu schlagen – hätte er nicht in diesem Moment den gelblich grünen Schein entdeckt, der vom Ende des Tunnels hereindrang.
Kieron kannte dieses Licht.
Der Beginn eines neuen Tages auf Madagor!
Obwohl seine Kräfte ihn eigentlich längst verlassen hatten, verstärkte der Junge seine Bemühungen, das Ende der Röhre zu erreichen – dass er sich dabei Ellbogen und Knie blutig stieß, bemerkte er noch nicht einmal. Immer größer wurde der kreisrunde Ausschnitt freien Himmels, den er vor sich sah, und mit jedem Stück, das er sich vorwärts arbeitete, wurde es wärmer. Der süße, würzige Duft von Orchideen und Bromelien stieg ihm in die Nase und lockte ihn ins Licht, zurück ins Leben.
Wie er die letzten Klafter hinter sich brachte, wusste Kieron später nicht mehr zu sagen. Irgendwann steckte er seinen Kopf durch die Öffnung, nur um sich dem ebenso breiten wie hässlichen Gesicht eines Chamäleoniden gegenüberzusehen.
»Na endlich«, blaffte Jago, dessen ganzer Körper von einer schimmernden, ölig braunen Schicht überzogen war. Seine hervorstehenden Augen verengten sich missbilligend.
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