Splitterwelten 01 - Zeichen
Wind zerrte an den Drachenreitern, während Croy, der einige Übung darin zu haben schien, das Tier zwischen den Baumkronen hindurch steuerte. Halb sitzend, halb auf den Steigbügeln stehend, dirigierte er den Drachen, der immer wieder kurz landete, um sich dann in einem weiteren kühnen Sprung hinabzustürzen, dem Weltenrand entgegen.
»Verdammt noch mal«, hörte Kieron Jago rufen, »ich hatte ganz vergessen, dass ich die Fliegerei nicht vertraaa…«
Und der Rest von dem, was er hatte sagen wollen, ergoss sich zusammen mit dem Frühstück, das er gegessen hatte, aus seinem Magen und in die grüne Tiefe.
14. Kapitel
Der Vorgang war stets derselbe.
In einem dünnen Rinnsal rieselte der feine weiße Sand, der von einer fernen Wüstenwelt stammen mochte, vielleicht auch von Aiolos oder Hydara, durch den schmalen Hals, den die Kunstfertigkeit eines Kristallbläsers geschaffen hatte, um sich am Boden des Stundenglases zu sammeln und zu einem spitzen Häuflein aufzutürmen. Dessen Wachstum versiegte erst, wenn das letzte Körnchen Sand herabgefallen war. Ergriff man das Stundenglas dann und stellte es auf den Kopf, begann alles von Neuem, und schon nach wenigen Drehungen wusste man nicht mehr zu sagen, auf welcher Seite des Glases man begonnen hatte. Boden und Deckel unterschieden sich nicht voneinander, ein eindeutiges Oben und Unten gab es nicht.
Genau wie in Kalliopes Welt.
Gedankenverloren starrte die Gildeschülerin auf das Geschenk, das sie von Meisterin Audra am Tag der Abreise erhalten hatte.
Ihr Versagen steckte Kalliope noch immer in den Gliedern. Nicht so sehr, weil sie sich dafür schämte und weil die Schiffsbesatzung, die ihr ohnehin die Schuld am Tod des Schiffskochs und seines Kumpanen gab, ihr nun mit offener Ablehnung begegnete und noch nicht einmal fürchten musste, von ihrem Kapitän dafür zurechtgewiesen zu werden. Sondern vor allem, weil sie das Gefühl hatte, im Ansehen ihrer Meisterin gesunken zu sein – jener Meisterin, die sich seit ihrer Abreise von Ethera auf eine Art und Weise verändert hatte, die Kalliope weder zu durchschauen noch zu verstehen vermochte.
Oder, fragte sie sich, während der Sand einmal mehr durch das Stundenglas rieselte, war in Wahrheit sie es, die sich verändert hatte? War ihre Wahrnehmung eine andere geworden, seit sie die Gildewelt verlassen hatte? Waren ihre Furcht und ihre Zweifel tatsächlich dabei, Oberhand zu gewinnen?
Der Gedanke erschreckte Kalliope – aber wie sollte sie ihre Furcht ablegen, wenn sie von Missgunst und Abneigung umgeben war? Wie ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen, wenn sie so schändlich versagt hatte? Wie das Gleichgewicht wiedererlangen, wenn ihre Welt ein um das andere Mal auf den Kopf gestellt wurde, gerade so wie das Stundenglas?
Einmal mehr griff sie nach der Sanduhr und drehte sie. Nicht nur, dass Kalliope das Stundenglas heimlich an Bord geschmuggelt hatte, sie holte es auch stets nur aus ihrem Beutel, wenn sie alleine war. Ihr war bewusst, dass sie damit gegen den Codex verstieß, der zwar die Benutzung persönlichen Besitzes, nicht jedoch dessen eifersüchtige Hortung erlaubte, aber Kalliope hatte das untrügliche Gefühl, dass es so klüger war. Die Tatsache, dass sie ein Geschenk von einer Gildeschwester angenommen hatte, die einen so zweifelhaften Ruf genoss, noch dazu ohne ihre Meisterin um Erlaubnis zu fragen, hätte sicher nicht dazu beigetragen, das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Cedara und ihr zu verbessern.
Am Tag nach ihrem Versagen hatte Kalliope sogar erwogen, das Stundenglas über Bord zu werfen, damit es nur ja nicht bei ihr gefunden würde, aber sie hatte es nicht über sich gebracht.
Schritte vor der Tür rissen Kalliope urplötzlich aus ihren Gedanken. Sie war so in ihre Betrachtungen versunken gewesen, dass sie das Knarren der Planken gar nicht gehört hatte. Jetzt war es zu spät, um das Stundenglas in den Beutel zu stecken. Hastig warf Kalliope ihren Schal darüber und fuhr am Tisch herum – als die Kajütentür auch schon geöffnet wurde.
»Meisterin Cedara.«
Kalliope sprang auf und begrüßte ihre Lehrerin, die vom Oberdeck zurückkehrte, mit einem ergebenen Nicken. Cedaras Züge waren gerötet, den Umhang hatte sie eng um die Schultern gezogen. Mit Passieren der Wettergrenze war es merklich kühler geworden, vor allem in den Abendstunden. Gerade hatte die Volanta im Hafen von Grenarda festgemacht, einer Kolonie am Rand der nördlichen Handelsroute, wo sie die Nacht über sicher sein
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