Sportreporter
Trauriges miterlebt hat, obwohl sie in Wirklichkeit fast jeden Tag Tod und Zerstörung vor Augen hat. »Also gut, paß auf«, sagt sie und starrt geradeaus auf die Fahrbahn. »Wußtest du, daß ich schon immer mal nach Detroit gehen wollte?« Sie betont Detroit auf der ersten Silbe.
»Nein.«
»Nun gut, es stimmt aber. Als du mich gefragt hast, wär ich fast vom Stuhl gefallen.« Sie drückt das Kinn nach unten, als denke sie ernsthaft nach, und macht mit der Zunge ein leises, schnalzendes Geräusch. »Wenn du gefragt hättest, ob ich mit dir nach Washington oder Chicago oder Timbuktu mitgehe, hätte ich wahrscheinlich nein gesagt. Aber als ich noch klein war, hat mein Daddy oft gesagt: ›De-troit schafft, die Welt rafft.‹ Und das war für mich so ein Rätsel, daß ich mir sagte, ich muß es sehen. Es hörte sich so ungewöhnlich an, jedenfalls für mich. Und romantisch. Er hat nach dem Korea-Krieg da oben gearbeitet, und als er wiederkam, hatte er eine Ansichtskarte von einem riesigen Reifen, der aufrecht dastand. Und diesen Reifen wollte ich sehen, aber es ist nie dazu gekommen. Ich hab statt dessen ohne besonderes Ziel vor Augen geheiratet. Dann hab ich dich kennengelernt.«
Sie lächelt verliebt zu mir herauf und schiebt, wie sie es in dieser Art noch nie getan hat, die Hand zwischen die Schenkel, und ich muß mich aufs Geradeausfahren konzentrieren, um einen größeren Unfall zu verhindern. Wir passieren in diesem Augenblick die Ausfahrt 9 nach New Brunswick, und ich werfe einen verstohlenen Blick auf die Reihe der gläsernen Kabinen, von denen nur zwei das GEÖFFNET-Schild beleuchtet haben und Autos abfertigen. Undeutliche graue Gestalten lehnen sich heraus und lehnen sich zurück, geben Anweisungen, wechseln Geld, weisen müden Autofahrern die Richtung zu Landstraßen. Was könnte schicksalhaft zufälliger oder verlockender sein, als an einem Mauthäuschen vorbeizufahren, wenn des Mautners einzige Tochter bei dir im Wagen sitzt und sich mit zärtlichen, kundigen Fingern an dein bestes Stück heranschleicht?
»Gefällt dir mein Name?« Sie läßt ihre Hand dicht an meinem Bein, während ihre superlangen Fingernägel einen hörbaren kleinen Steptanz hinlegen.
»Er gefällt mir sehr gut.«
»Ach ja?« Sie zieht wieder die Nase hoch. »Ich hab ihn noch nie gemocht, aber trotzdem, danke. Gegen Arcenault hab ich nichts. Das mag ich. Aber Vicki klingt wie ein Name auf einem billigen Armreif.« Sie streift mich mit einem Blick und sieht dann wieder hinaus auf das breite und feuchte Mündungsgebiet des Raritan, das sich bis zur Spitze von Staten Island und zu den Amboys erstreckt. »Sieht aus, als sei irgendwo da draußen die Welt zu Ende, was?«
»Mir gefällt’s da draußen«, sage ich. »Manchmal kannst du dir einbilden, du seist in Ägypten. Manchmal kannst du sogar das World Trade Center sehen.«
Sie kneift mich freundschaftlich ins Bein und läßt mich dann los, um sich aufrecht hinzusetzen. »Ägypten, eh? Dir würde das gefallen, das glaub ich. Du gehörst zu den Bekloppten. Sag mal, an was ist dein kleiner Junge eigentlich gestorben?«
»Reye-Syndrom.«
Sie schüttelt den Kopf, als sei sie verwirrt. »Scheibenkleister. Was hast du gemacht, als er gestorben ist?«
Dieser Frage möchte ich nicht nachgehen, obwohl ich weiß, sie würde nicht fragen, wenn sie sich meinetwegen keine Sorgen machte und sich von ihrer Frage nichts versprechen würde. Sie ist in diesen Dingen nicht weniger realistisch als ich und hat bei Männern viel mehr Durchblick als ich bei Frauen.
»Wir saßen beide an seinem Bett. Es war frühmorgens. Noch dunkel. Vielleicht haben wir sogar geschlafen. Doch eine Schwester kam herein und sagte: ›Es tut mir leid, Mr. Bascombe, Ralph lebt nicht mehr.‹ Wir blieben beide wie betäubt ein paar Minuten sitzen, obwohl wir wußten, daß es passieren würde. Und dann weinte sie eine Weile, und ich weinte auch. Und dann ging ich nach Hause und machte mir ein Frühstück aus Speck und Toast und landete schließlich vor dem Fernseher. Ich hatte eine Aufzeichnung von großen Basketballspielen um die NBA-Meisterschaft, und die sah ich mir an, bis es hell wurde.«
»Der Tod läßt einen verrückte Dinge tun, nicht wahr?« Vicki legt den Kopf auf die Rückenlehne, nimmt die Füße auf den Sitz und umschlingt die glänzenden schwarzen Knie. Weit voraus sehe ich ein Flugzeug – einen großen Jet – der Erde und dem Flughafen von Newark entgegenschweben; es ist ein vielversprechendes Zeichen.
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