Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung
rezeptiven Sprachstörungen in aller Regel ebenfalls Aussprachestörungen und expressive Sprachstörungen sowie bei expressiven Sprachstörungen ebenfalls Aussprachestörungen zu beobachten sind. In der zitierten Beschreibung der umschriebenen Störungen des Sprechens und der Sprache sind im Wesentlichen Ausschlusskriterien definiert, hinzu kommt eine Reihe sekundärer Beeinträchtigungen (Kany & Schöler, i. Dr. a, b).
In der ICD-10 wird ein doppeltes Diskrepanzkriterium zwischen den sprachlichen Leistungen und der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit festgelegt: Dies bedeutet, dass nicht nur ein bedeutsamer Unterschied zwischen sprachlicher und kognitiver Leistung besteht, sondern gleichzeitig die sprachlichen Leistungen mindestens – statistisch formuliert – eine Standardabweichung unter dem Altersdurchschnitt liegen, also zu den unteren 16 Prozent im Vergleich zur Altersgruppe zählen. In der Praxis unterschiedlicher Berufsorganisationen wird die kritische Grenze auch bei eineinhalb (PR < 8) oder sogar zwei Standardabweichungen (PR < 2) unterhalb des Mittelwertes angesetzt. Bei der DiagnoseUSES/SSES muss demnach eine Intelligenzminderung ausgeschlossen sein. Ein Kind mit einem allgemeinen Förderbedarf, ein lernbehindertes Kind, kann daher nicht gleichzeitig als ein Kind mit einer USES/SSES diagnostiziert sein (s. auch das doppelte Diskrepanzkriterium bei der Bestimmung einer Legasthenie; u. a. Dummer-Smoch 2007a). In der neuen interdisziplinären Leitlinie für die Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen, die sich ansonsten an dieser WHO-Definition orientiert, wird dieses doppelte Diskrepanzkriterium für die Diagnose einer USES/SSES – leider – nicht gesetzt: »In dieser Leitlinie wird aus Gründen der praktischen Anwendbarkeit auf das doppelte Diskrepanzkriterium bei der Diagnose einer USES verzichtet« (de Langen-Müller et al. 2011, S. 26). Zwar sollte der nonverbale IQ durchschnittlich sein, aber eine bedeutsame Diskrepanz zwischen kognitiver und sprachlicher Leistung muss nach dieser neuen diagnostischen Leitlinie nicht gegeben sein. Durch dieses Vorgehen wird zum einen die WHO-Vereinbarung nicht eingehalten, zum anderen wird geleugnet, dass diese Diskrepanz zwischen sprachlicher und kognitiver Leistungsfähigkeit eine Relevanz für die Interventionen haben könnte. So bleibt ein bedeutsamer Unterschied für die Intervention unbeachtet (Keilmann, Braun & Schöler 2004): Die Kompensationsmöglichkeit über die visuelle Modalität, wie dies erfolgreich bei einer Legasthenie gezeigt werden kann (Dummer-Smoch 2007b; Link & Schöler 2005).
Die sprachlichen Auffälligkeiten einer USES/SSES an einem Beispiel
Die sprachlichen Auffälligkeiten bei einer USES/SSES werden bereits 1901 von Liebmann – er spricht damals von kindlichem Agrammatismus – recht treffend beschrieben: »In der spontanen Rede pflegen diese Kinder bei Substantiven, Adjektiven und Pronomina weder Numerus, Casus noch Genus zu unterscheiden. Bei Verben wenden sie meist den Infinitivus Präsentis an oder die erste Person Singularis Präsentis« (S. 241). Eine Analyse solcher Flexionsfehler beim Nachsprechen von Sätzen bestätigt diese Beobachtungen von Liebmann: Die Zahl der Flexionsfehler bleibt mit über 10% recht konstant über den untersuchten Alterszeitraum, während bei den sprachunauffälligen Kindern ab einem Alter von elf Jahren solche Fehler nicht mehr beobachtet werden (s. Kany
& Schöler 1998, S. 140).Viele Fehler deutschsprachiger Kinder mit einer USES/SSES können folgenden drei Kategorien zugeordnet werden (Kany & Schöler, i. Dr. a): (1) falsch oder unflektierte morphologisch-syntaktische Strukturen, (2) Auslassungen obligatorischer syntaktischer Elemente und (3) Wortstellungsfehler. In der folgenden freien Erzählung eines 8;1 Jahre alten Jungen, die auf CD vorliegt (Schöler & Grabowski 2011), sind diese Fehler zu beobachten. Der Achtjährige zeigt darüber hinaus noch zahlreiche Aussprachestörungen, die im folgenden Transkript schwieriger zu erkennen sind.
Andreas:
»ja is hab eine Haustier – ein Vodel«
Untersucher:
»Ist einmal was Lustiges passiert?«
Andreas:
»ja, einmal was habiert – n Bubi maat nist in Tüche – heit – dann in Wohnzimmer tommt und mein Hester anzzieht – Hilfe ein Vodel in Zimmer heit – und dann hebe Mama haffazo und uns Essen holt – von Bubi seine Essen – und dann sön essen – und haus deet in Käfis – jawoll das wärs«
(1) Flexionsfehler
Bei der Äußerung
Weitere Kostenlose Bücher