Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung
Deutsch ändert sich mit der Zeit (diachrone Entwicklung) auf nahezu allen Ebenen (z. B. im Bereich der Grammatik die Veränderung des Kasus bei bestimmten Präpositionen [»der Dativ ist dem Genitiv sein Tod«], im Bereich des Wortschatzes und der Semantik) und regional, z. B. werden selbst gleiche Metaphern, wie »passt wie die Faust aufs Auge«, in Abhängigkeit von der Region unterschiedlich bewertet. Veränderte Lebensbedingungen verändern also Sprache und bieten durchaus ein Gefahrenpotenzial fürSprach- und vor allem Kommunikations
auffälligkeiten . Nicht nur die internationalen Vergleichsstudien, wie PISA, zeigen, dass der
soziale Hintergrund
(heute oft mit Bildungsferne oder -nähe gekennzeichnet) ein wesentlicher Faktor für Leistungsunterschiede und damit auch für ungleiche Bildungschancen ist. Zusammenhänge finden sich zwischen dem Fernsehkonsum, dem eigenen Fernseher im Kinderzimmer, den Vorlesezeiten durch die Bezugspersonen und den Sprach- und
Kommunikationsauffälligkeiten
des Kindes (s. u. a. Schöler et al. 2002, 2004). Solche sprachlichen Auffälligkeiten sind aber nicht mit behandlungsbedürftigen Störungen gleichzusetzen. Die Mehrzahl der sprachlichen Schwierigkeiten, die durch soziale Faktoren bedingt sein werden, hängen mit dem Sprachangebot zusammen. Ist dieses z. B. dürftig in Bezug auf das erforderliche Niveau des Wortschatzes und der Grammatik, welches in der Grundschule erforderlich ist, dann werden die Leistungen in den meisten akademischen Fächern bedeutsam niedriger liegen als bei einem sprachlichen Angebot, das diesen Erfordernissen entspricht. Diese Defizite – um dies noch einmal zu betonen – sind nicht identisch mit behandlungsbedürftigen Störungen. Wichtig sind hierbei die Differenzierungen in einen
Förderbedarf
aufgrund bisheriger unzureichender Sprachangebote, also entsprechend schwächeren Entwicklungsbedingungen, und einem
Therapiebedarf
aufgrund einer Entwicklungsstörung, also entsprechend defizitären individuellen Entwicklungsvoraussetzungen (zur Unterscheidung zwischen Entwicklungsbedingungen und -voraussetzungen s. Kany & Schöler 2010).
Zusammenfassend
können also bedeutsame Beziehungen zwischen Entwicklungsbedingungen und sprachlichen Leistungen beobachtet werden, ein Zusammenhang zwischen Entwicklungsbedingungen und Sprachstörungen ist damit aber nicht ohne Weiteres herstellbar. Daher soll hier zunächst noch einmal definiert werden, was als eine Sprachentwicklungsstörung und insbesondere als eine umschriebene bzw. spezifische Sprachentwicklungsstörung (USES/SSES) gilt, und wie diese von schwachen sprachlichen Leistungen zu differenzieren ist.
Definition einer umschriebenen/spezifischen Sprachentwicklungsstörung
Die USES/SSES kann als eine erwartungswidrige Minderleistung im sprachlichen Können im Vergleich zu den intellektuellen Fähigkeiten charakterisiert werden. Vor allem bei der Äußerungsproduktion ist sie ohrenfällig, bei durchschnittlicherkognitiver Leistungsfähigkeit, meist gemessen durch einen nonverbalen Intelligenztest, scheint insbesondere der Erwerb und Gebrauch sprachlich-strukturellen Wissens beeinträchtigt; auffällige emotionale Störungen oder Verhaltensstörungen sollen nicht vorliegen, zerebrale Dysfunktionen, Hirnschädigungen, Hörschäden oder -störungen sind nicht diagnostizierbar. Diese Definition entspricht der Klassifikation F80. (»Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache«) im Kapitel V der ICD-10: »Es handelt sich um Störungen, bei denen die normalen Muster des Spracherwerbs von frühen Entwicklungsstadien an beeinträchtigt sind. Die Störungen können nicht direkt neurologischen Störungen oder Veränderungen des Sprachablaufs, sensorischen Beeinträchtigungen, Intelligenzminderung oder Umweltfaktoren zugeordnet werden. Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache ziehen oft sekundäre Folgen nach sich, wie Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben, Störungen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, im emotionalen und Verhaltensbereich« (DIMDI 2012; s. auch Neumann et al. 2009). Diese Störungen werden untergliedert, u. a. in Artikulationsstörungen (F80.0), expressive Sprachstörungen (F80.1) und rezeptive Sprachstörungen (F80.2) sowie drei weitere Kategorien, die hier nicht detaillierter aufgeführt werden. Die genannten drei Störungsformen sind in gewisser Weise nach Schweregrad angeordnet und insofern hierarchisch geschachtelt, als bei
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