Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung
Schöler 2009; Schöler 2008). Auch die Aussage, dass nur oder im Wesentlichen mit spontansprachlichen Erhebungen Sprachdiagnostik möglich sei, ist unsinnig. Die obigen Ausführungen sollten verdeutlicht haben, dass alleine aufgrund eines, die Sprachproduktion beschreibenden Verfahrens z. B. Verstehensprobleme nicht erfasst werden könnten – ganz abgesehen von den Erfordernissen der Differenzialdiagnose bei einer USES/SSES.
Beobachtung dürfte die schwierigste diagnostische Methode sein. Die gerade im (früh-)pädagogischen Bereich zu hörende strikte Trennung von Beobachtung und Diagnostik verkennt, dass erstens der Beobachtung bei jedem diagnostischen Prozess eine hohe Relevanz zukommt, allerdings nur, wenn zweitens entsprechende Beobachtungskompetenz vorhanden ist. Diese setzt Expertise voraus und detailliertes Wissen über genau jene Verhaltensweisen und Leistungen, die man beobachten will, wie dies Nietzsche treffend formuliert haben soll: Es gibt keine unbefleckte Erkenntnis (s. detailliert dazu Kany & Schöler 2009, 2010).
Es ist notwendig, zwischen einer
Sprachtherapie
und einer
Sprachförderung
zu unterscheiden. In aller Regel sind Kinder, die nur unzureichend mit der Verkehrssprache in Kontakt gekommen sind, in dieser Verkehrssprache durch entsprechende pädagogische Angebote zu fördern (s. dazu Ruberg & Rothweiler 2012). Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung brauchen gezielt therapeutische Hilfe, die in der Regel nicht in pädagogischen Einrichtungenerfolgen kann, hier bedarf es einer spezifischen therapeutischen Expertise.
Spezifische Sprachentwicklungsstörungen sind nach allem keine Zivilisationskrankheit, sondern betreffen einen relativ konstanten Anteil von Kindern einer Jahrgangspopulation, der mit drei bis unter 10 Prozent hoch genug ist (s. Schäfer, Schöler, Roos, Grün-Nolz & Engler-Thümmel 2003; Schöler, Guggenmos & Iseke 2006) um angemessene Diagnostika zu entwickeln und spezielle Interventionen zu suchen und zu etablieren.
Die Intervention bei einer USES/SSES muss kompensatorisch sein. Da der gestörte Spracherwerbsprozess bei einer USES/SSES definitionsgemäß nicht durch externe Bedingungen zustande gekommen ist, kann man schlussfolgern, dass der normale Spracherwerb aufgrund von Entwicklungsvoraussetzungen nicht funktionierte. Der normale Spracherwerb kann daher
nicht
als Folie für die Intervention bei einem gestörten Spracherwerb gelten (s. Schöler 1985). Eine angemessene Differenzierung von Störungsformen sollte auch zur Entwicklung von angemessenen Interventionen führen, welchen in der Regel nicht eine Theorie des normalen Spracherwerbs zugrunde liegt.
Das größte Risiko für eine Schriftspracherwerbsstörung (Legasthenie, LRS) besteht in einer vorausgegangenen USES/SSES (Schöler 2011). Dies legt die Annahme vergleichbarer oder sogar gemeinsamer Bedingungsgefüge von USES/SSES und LRS nahe. Beim heutigen Kenntnisstand ist davon auszugehen, dass allgemeinere basale Faktoren, die für eine auditive Informationsverarbeitung notwendig sind, bei beiden Störungsbildern beeinträchtigt sein können. Für die Diagnostik bedeutet dies, dass Lern- und Verarbeitungsprozesse stärker im diagnostischen Prozess berücksichtigt werden sollten. Eine rein deskriptive sprachpathologische Perspektive kann weder für eine Differenzialdiagnostik noch für die Suche nach Interventionsmöglichkeiten (allein) zielführend sein.
Literatur
Baddeley, A. (2000): The episodic buffer: A new component of working memory?
Trends in Cognitive Sciences, 4
, 417 – 423.
de Langen-Müller, U., Kauschke, C., Kiese-Himmel, C., Neumann, K. & Noterdaeme, M. (unter Mitarbeit von Bode, H., Kieslich, M., Lohaus, M., Maihack, V., Rausch, M., Schmid, S., Schmitz-Salue, C., Schöler, H. & Schönweiler, R.) (2011):
Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES), unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES) (Synonym: Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES)). Interdisziplinäre S2k-Leitlinie
, Reg.-Nr. 049/006. Verfügbar unter: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/049 – 006 l_S2k_Diagnostik_Sprachent wicklungsstoerungen_2011-12.pdf [04. 01. 2012].
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2012):
Entwicklungsstörungen (F80-F89).
Einsehbar unter: www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2005/fr-icd.htm?gf80.htm+ [06. 01. 2012].
Dummer-Smoch, L. (2007a): Legasthenie – zur Begrifflichkeit in den Legasthenie-Erlassen der
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