Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung
Kinder, 2004). Auch Keilmann äußerte sich in ähnlicher Weise: »Die Zunahme von Sprachstörungen bei Vorschulkindern ist Experten zufolge auf soziokulturelle und psychosoziale Faktoren zurückzuführen« (1998, S. 60). Es gebe einen deutlichen Zusammenhang zwischen mangelnder zwischenmenschlicher Kommunikation und der zunehmenden Zahl sprachgestörter Kinder, so Kruse, damals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie laut Frankfurter Rundschau vom 6. Oktober 2000.
Zwar variierten die Prävalenzraten in der Folge mal ein wenig nach oben oder unten, so reduzierte Heinemann die Zahl in einem Interview 2003 in der FAZ auf 17,4%, andere, wie Grimm, erhöhten diese Prävalenz von 5 – 7% (1998) auf 15,9% (2003; s. auch Grimm et al. 2004; übrigens ein Prozentwert, der verdächtig dem Wert einer Standardabweichung entspricht und somit die Grenze des statistisch unterdurchschnittlichen Bereiches darstellt), aber zumeist wurde von einem recht hohen Anteil sprachgestörter und behandlungsbedürftiger Kinder eines Jahrganges ausgegangen. So kann man aktuell auf der Homepage des Max-Planck-Institutes für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig lesen: »Besorgt beobachten Experten seit einigen Jahren eine deutliche Zunahme der Sprachstörungen. Nach jüngsten Untersuchungen in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben rund 20 Prozent der Kindergartenkinder deutliche Mängel bei Sprachverständnis, Wortschatz, Artikulation und Grammatik. 1982 ergaben vergleichbare Studien gerade einmal vier Prozent« (MPI 2012).
In einem Review von Kasper et al. (2011) wird die Variation der Prävalenzrate einer Sprachentwicklungsstörung mit 0,6% bis 19% angegeben. In einer Zusammenstellung der mir zugänglichen Zahlen für Sprachentwicklungsstörungen im Zeitraum von 1976 bis 2011 variieren die Angaben zwischen 0,3% bei der U9 in Baden-Württemberg (Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg 2000) bis 70% bei einer Untersuchung der Schulanfänger in Sachsen (Tollkühn 2001). Bei einer eigenen bundesweiten Befragung lag der Schätzwert für eine USES/SSES bei 3% (Häring, Schakib-Ekbatan & Schöler 1997).
Zusammenfassend
ist festzuhalten: Die Bandbreite epidemiologischer Angaben für Sprachentwicklungsstörungen ist außergewöhnlich groß. Lässt man die Extremvarianten außer Acht, so sollen zwischen 3% und 20% einer Jahrgangspopulation eine behandlungsbedürftige Sprachentwicklungsstörung haben. Die gesellschaftlichen Ressourcen für Interventionen würden bei einem Anteil von 3% oder von 20% enorm variieren. Die den obigen epidemiologischen – nahezu epidemieartigen – Zahlen zugrunde liegenden diagnostischen Vorgehensweisen und Kriterien zur Bestimmung einer behandlungsbedürftigen Störung sind offensichtlich vollkommen uneinheitlich und unterschiedlich. Eine erste Schlussfolgerung ist demnach: Die Variation der Zahlen impliziert eine uneinheitliche Definition und Diagnose einer behandlungsbedürftigen Sprachentwicklungsstörung.
Ist eine Sprachentwicklungsstörung eine Zivilisationskrankheit?
Die in Fachartikeln und in den Medien genannten
Ursachen
für diesen hohen Anteil und dramatischen Anstieg von Sprachentwicklungsstörungen legen nahe, dass eine Sprachentwicklungsstörung durch exogene, vor allem soziale Faktoren bedingt ist. Hier einige der Schlagzeilen in verschiedenen Printmedien (Schöler 1999, S. 17):
Eltern haben keine Zeit
In Familien erstirbt Gespräch
Stundenlanger Fernsehkonsum
Mangelnde zwischenmenschliche Kommunikation
Erziehungsdefizite
Zu wenig Liebe
Mangelnde emotionale Beziehung
Unter der Annahme, dass die Mutter bei Beachtung der üblichen Lebenssituation nach wie vor die engste Bezugsperson eines Kindes ist, lassen diese Begründungen nur eine Schlussfolgerung zu:
Mütter
und die
Visuo-Medien
sind die Verursacher der rapiden Zunahme bzw. des hohen Anteils an Sprachentwicklungsstörungen! Diese simplen Kausalitäten würden auch bedeuten, dass eine Sprachentwicklungsstörung eine Kulturkrankheit ist, wie dies Heinemann 1996 in einem Interview laut Focus Nr. 46 auch äußert: »Ich glaube, daß Sprachstörungen sich zu einer neuen Zivilisationskrankheit entwickeln« (s. hierzu kritisch Schöler 2006).
Veränderte Lebensbedingungen können zwar zu einer Änderung von Kommunikationsstrukturen führen, aber sind sie auch gleichzeitig ein Grund für das Auftreten von behandlungsbedürftigen Sprachentwicklungsstörungen? Eine Verkehrssprache wie
Weitere Kostenlose Bücher