Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung
Wörter fügen sich zu Sätzen, diese werden verstanden, wenn sie vollständig sind. Sätze fügen sich zu Texten … Ganz anders dagegen die Familie »top down«: Hier wird eine übergeordnete (kognitive?) Instanz vermutet, die bereits beim ersten Höreindruck von Sprache auf aktiver Sinnsuche ist und dazu Weltwissen, wortstatistische Erfahrungen, grammatische Redundanzen vorhält und den Verstehenseindruck z. B. abschließt, bevor ein Satz vollständig gehört ist. Hörmann spricht in diesem Zusammenhang vom »click of understanding« (Hörmann 1978, S. 208). Wenn »voreilige Fehlschlüsse« aufgetreten sind, wird der Satzverstehensprozess im Verlauf revidiert. In der Psycholinguistik nennt man Sätze, die durch ihre Struktur zu solchen voreiligen Fehlschlüssen verführen, Garden-Path-Sätze (Pinker 1996).
Als Alternative zum »Modell Schreibmaschine« könnte man Top-down-Sprachverstehen als »Modell Ottomotor« bezeichnen. Im Zylinder wabert ein sich ständig veränderndes Gemisch von aufgenommenen Eindrücken (noch nicht exakt erkannte, evtl. flektierte Wörter, aber auch visuelle Eindrücke z. B. aus der Mimik des Sprechers, noch nicht verwendete Satzbruchstücke, aktuelle Situationseindrücke, Weltwissen …). Hin und wieder funkt die »Zündkerze« (Kognition? »Sprachkompetenz«?, Sinnsuche? …). Je nach Zündfähigkeit des Gemisches kommt es dann zur »Verstehensexplosion« oder nicht.
Dieses zugegebenermaßen (noch) nicht sehr wissenschaftliche Modell könnte aber durchaus therapeutische Bedeutung haben: Einflussnahme auf den Verstehenserfolg wäre möglich durch eine Verbesserung des Gemisches oder durch die Optimierung der Leistung der Zündkerze. Konkret zeigen sich Ansätze zu Ersterem in Therapieansätzen, die sich der Optimierung des Eingangssignals verschreiben (»auditive Wahrnehmungstherapie«), der »Ottomotor-Hypothese« würden eher die Ansätze folgen, die sich mehr kognitiv orientierten Ebenen des Verstehens zuwenden (»MSV« – siehe Schönauer-Schneider 2008). Aus der therapeutischen Praxis ist zu berichten, dass es bei sprachverständnisgestörten Kindern ein sehr gutes Zeichen ist, wenn es gelingt, die rezeptive Aktivität so anzuregen, dass vermehrt »rezeptive Zündungsversuche« unternommen werden. »Fehlzündungen« (falsche Verstehenshypothesen) sind dabei nicht als Problem zu sehen, sondern als wichtiger Schritt zur Überwindung der Sprachverständnisstörung!
Im realen Leben besteht Sprachverständnis wohl aus einer Mischung beider Komponenten (bottom-up und top-down). Unübersehbare Belege für ein topdown gestütztes Verstehen sind dabei die vielen Situationen, wo Menschen Sprache verstehen, die in ihrem (visuellen oder auditiven) Eingangssignal nachgewiesenermaßen absolut unvollständig ist. Wenn etwa die SZ in der Schlagzeile titelte »Blair gewinnt, verliert aber deutlich«, so war jeder kompetente Leser intuitiv und unbewusst in der Lage, diesen an sich unsinnigen Satz durch entsprechende eigene Ergänzung logisch aufzufüllen und zu »verstehen«: Blair gewinnt (die Wahl), verliert aber deutlich (an Stimmen). Derartiges tun wir permanent, ohne es bewusst wahrzunehmen.
Ein weiteres zwingendes Beispiel für die Existenz von »top-down-Verstehen«: Das physikalische Signal, das Cochlea-Implantate noch vor wenigen Jahren an das Ohr bzw. Gehirn zu geben mochten, war so unvollständig, dass es in der Simulation vom Hörer zuerst gar nicht als Sprache zu erkennen war (heute sind die Geräte besser). Bei mehrmaligem Anhören im Experiment verändert sich der eigene Wahrnehmungseindruck in unglaublicher Weise: Man findet zunehmend »Verstehensinseln« im Signal und »hört« nach einigen Durchgängen dann wirklich Sprache! Sie ist allerdings im Eingangssignal so gar nicht vorhanden, sondern wird vollkommen unbewusst im Gehirn des Hörers generiert.
Intensives Training ermöglichte den meisten CI-Patienten schon zu dieser Zeit, mit Hilfe so rudimentärer Eingangssignale Sprachverständnis zu gewinnen. In Anlehnung an Goethe könnte man hier folglich sagen: »Wir verstehen mehr, als wir hören!«
Sprachverständnisstörungen
Sprachverständnisstörungen sind in der ICD-10 (dimdi.de) mit dem Kürzel F 80.2- klassifiziert. Hier auf die Unterscheidung von »auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen« (F 80.20) und »sonstigen rezeptiven Sprachstörungen« (F 80.28) einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Darüber könnte man ganze Bücher schreiben.
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