Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
war das möglich angesichts dieser schweren Partien? Waren die Orchester schwächer? War das A etwas tiefer gestimmt und damit der Gesang nicht so anspruchsvoll? Waren die Erwartungen des Publikums nicht so hoch wie unsere heutigen? Dass die Kritik schon Anfang des 20. Jahrhunderts verhältnismäßig scharf war
und auch das Publikum nicht nur einen »Brüllaffen« sehen wollte, darüber hat uns der gefeierte Heldentenor Leo Slezak in seiner Autobiografie Mein Lebensmärchen ein Zeugnis geliefert.
Gute Tenöre gab es immer nur wenige. Wieland Wagner fuhr todtraurig auf das Begräbnis seines wunderbaren Tristan Wolfgang Windgassen, weil er wusste, so einen würde er nie wieder finden. Sein Held war tot.
Streichkonzert
Warum befolgen viele Dirigenten die Wieder-
holungsvorschriften nicht?
Normalerweise werden in klassischen Menuett- oder Scherzosätzen stets alle Wiederholungen ausgeführt. Der erste Teil eines Menuetts wird ebenso wiederholt wie der etwas längere zweite Teil, der das Thema meist noch einmal aufgreift. Danach folgen Trio und Menuett jeweils ohne Wiederholungsvorschrift. Insgesamt erklingen die Sätze also mindestens sechs Mal. Auf die Idee, hier etwas zu streichen, ist bislang niemand gekommen, wohl auch deshalb, weil die Sätze so kurz sind.
Im Kopfsatz großer Symphonien hingegen ignorieren viele Interpreten die Wiederholung der Exposition recht häufig. Dadurch werden bei gedrängten und kompliziert verlaufenden Expositionen – wie beispielsweise bei Beethovens Eroica – die Proportionen zerstört. Die Exposition der Eroica entwickelt ja verschiedene Motive. Hört man diese Exposition aber nur einmal, kann man ihren Sinn und ihre Schönheit nicht hinreichend aufnehmen.
Die Kunst beim Ausführen von Wiederholungen besteht nun darin, dieselben Noten mit denselben Vortragsbezeichnungen nicht identisch klingen zu lassen, also keine mechanische Gleichförmigkeit zu produzieren. Das zweite Mal darf nicht sein wie das erste Mal. Man sagt doch auch nicht zweimal im selben Tonfall
»Ich liebe dich«. Beim zweiten Mal artikuliert man es vielleicht ein bisschen drängender, weil es beim ersten Mal nicht geklappt hat; oder etwas gelangweilter, weil schon wieder alles vorbei ist. Jedenfalls differenziert man, es sei denn, man will Gleichheit demonstrieren.
Als Rubinstein seinen Freund Picasso einmal fragte, warum er immer das gleiche Motiv male, antwortete der Malerkönig: »Es ist nicht das Gleiche. Es ist jedes Mal eine andere Sonne, ein anderes Licht, eine andere Zeit.« Mich stört bei Wiederholungen von klassischen Expositionen, wenn Interpreten bestimmte Eigentümlichkeiten – ein wunderschönes Ritardando, ein dynamisches Crescendo – beim zweiten Mal genauso ausführen wie beim ersten Mal, das wirkt so vorhersehbar und schrecklich fantasielos.
Im 18. Jahrhundert wurde nicht nur die Exposition wiederholt. Man findet häufig die Vorschrift, dass auch die Durchführung und die Reprise wiederholt werden müssen. Das aber scheint mir doch sehr schematisch und konventionell. In diesem Fall, finde ich, sind die Interpreten durchaus berechtigt, auf die Wiederholung zu verzichten. Sonst aber nicht.
Das erste Mal
Wie prägend sind frühe Hörerlebnisse?
Die Gefahr ist tatsächlich groß, dass man erste Schallplatteneindrücke für verbindlich hält. Und je mehr einen dieses erste Hörerlebnis betört, umso prägender ist es. Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, begeisterten mich Mozarts A-Dur-Sonate, einstudiert von Wilhelm Kempff, und Strawinskys Psalmensymphonie, von ihm selbst dirigiert. Hörte ich dieselben Werke in einer anderen Interpretation, war ich enttäuscht; mir fehlten die schönen Stellen, um derentwillen ich diese Werke zu lieben begonnen hatte.
Enttäuschungen resultieren fast immer aus Erwartungen. Um nicht in diese musikpsychologische Falle zu tappen, sollte man nach einer Kennenlernaufnahme möglichst bald eine zweite Aufnahme hören, eine, die gleichermaßen fasziniert, aber gegen den eigenen Geschmack gerichtet ist. Als erwachsener Mensch und Kunstliebhaber sollte man, finde ich, nicht nur die eigenen Vorlieben zum Maßstab machen. Ich kann beispielsweise mit Friedrich Guldas motorischer Art eigentlich nicht viel anfangen, gleichwohl entwickelt der Rhythmus bei ihm einen derart starken Sog, dass ich seine Interpretation eben doch fantastisch finde. Und gilt Hans Knappertsbusch nicht als der Parsifal -Dirigent? Ich habe ihn oft in Bayreuth gehört und
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