Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
natürlich auch seine Platteneinspielungen. Hört man dann Arturo Toscanini und lässt sich darauf ein, begreift
man aber schnell, dass dieser Italiener die Kunst des Dirigierens mindestens ebenso virtuos beherrschte.
Um die Fesseln früher Hörerlebnisse zu lösen, kann man auch während einer Aufnahme in den Noten mitlesen. Das macht einen frei. Jeder aber kehrt gern zur ersten Liebe zurück. Genau deshalb hat Jean Paul eindringlich davor gewarnt, das Urteil anderer Leute nachzuplappern oder auf seinem eigenen, früher einmal gefällten Urteil zu beharren, denn jeder wird älter und verändert sich. Klug ist, wer die Musik an diesem Älterwerden teilnehmen lässt.
Vibrationsalarm
Warum verbieten manche Dirigenten
den Streichern das Vibrato?
In seiner im 18. Jahrhundert veröffentlichten Violinschule verlangte der italienische Geiger Francesco Geminiani, das Vibrato möglichst oft zu verwenden. Leopold Mozart, also der Vater von Wolfgang Amadeus Mozart, warnte wiederum vor zu häufigem Gebrauch des Vibrato. Keiner kam jedoch auf die Idee, es zu verbieten. Dies ist erst heute unter dogmatischen Orchesterleitern üblich geworden – interessanterweise nicht nur unter Vertretern der historischen Schule, sondern auch bei Interpreten von Beethoven, Brahms und Tschaikowsky.
Geradezu verpönt ist das Spielen mit Vibrato bei heutigen Barockorchestern. Diese Praxis erschwert es ungemein, eine musikalische Phrase aus natürlichem Bedürfnis heraus vorzutragen, sie klingt gekünstelt. Andererseits dürfen und sollen die Sänger ungehindert mit Vibrato respektive Tremolo ihrem musikalischen Instinkt folgen. Eine seltsame Diskrepanz, zumal Dirigenten gerade von den Geigern immer wieder verlangen, mit und auf ihren Instrumenten zu singen, als seien sie verhinderte Sänger.
Vor einigen Jahren versammelten sich in London auf einer internationalen Konferenz zahlreiche Musikwissenschaftler und Schwingungsexperten. Sie stellten
fest, dass das Vibrato in allen bekannten Epochen ein fester Bestandteil des musikalischen Ausdrucks war. Zudem hat die Geigerin Jeanne Christee ein gründlich recherchiertes Buch über historische Violintechniken verfasst. Es versammelt Interviews mit prominenten Kollegen wie Hilary Hahn, Ulf Hoelscher und Vadim Repin sowie den Geigenlehrern Joseph Joachim und Ruggiero Ricci. Keiner von ihnen erhebt den Manierismus des Nicht-Vibrierens zum Dogma. Niemand lehnt das Vibrato grundsätzlich ab.
Auch ich bin der Meinung, dass ein geschmackvolles Vibrato den Ton verschönt und erst lebendig macht. Ich gehe sogar noch weiter und sage: Es gehört zum humanen Ausdruck der Musik. Den Geigen zu nehmen, was bei der menschlichen Stimme die Natur selber ist, scheint mir widersinnig, zumal der Geigenton ohne Vibrato oft sehr hässlich und starr klingt.
Gewiss: Übertreibung kann alles kaputt machen. Der berühmteste Virtuose der letzten Jahrzehnte, Jascha Heifetz, spielt gerne ein Dauervibrato, breit und forciert. Aber selbst Heifetz weiß, dass man bei Bach die Chaconne nicht mit der gleichen Schwingungsintensität gestalten kann wie den ersten Satz in Brahms’ Violinkonzert. Also bitte keinen falschen Vibrationsalarm.
Der Interpret und sein Gedächtnis
Müssen Pianisten auswendig spielen?
Das Auswendigspielen, davon bin ich überzeugt, wird allgemein überschätzt. Wie oft hört man Besucher nach einem Konzert sagen: »Und er hat alles aus dem Kopf gespielt!« Die Bewunderung, die in so einem Satz mitschwingt, speist sich vor allem aus Naivität. Denn selbst wenn man als nur mittelmäßig begabter Musiker ein Werk einübt, kann man es meist viel schneller auswendig, als es musikalisch und technisch zu beherrschen. Die Musik hat ihre Logik, die geht rasch in die Finger und in den Kopf.
Franz Liszt beispielsweise konnte keineswegs alles auswendig, er spielte immer wieder mit Noten. Johannes Brahms wiederum besaß ein derart gutes Gedächtnis, dass er gelegentlich nicht mal die Noten in den Konzertsaal mitnahm. Wir wissen, dass es sogar möglich ist, alle zweiunddreißig Klaviersonaten von Beethoven auswendig zu beherrschen. Große Pianisten wie Friedrich Gulda, Maurizio Pollini oder Claudio Arrau konnten das jedenfalls. Sehr viel schwerer ist es, das Wohltemperierte Klavier von Bach aus dem Gedächtnis vorzutragen. Das gelingt nicht vielen.
Aber muss man überhaupt auswendig spielen? Beim Violinkonzert von Tschaikowsky, beim Klavierkonzert von Liszt, da würde es mich schon stören, wenn der
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