Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
hält, der unterschätzt ihn. Noch immer ist keiner in Sicht, der so genial ist wie er. Punkt. Herbert von Karajan war der erfolgreichste Dirigent der Musikgeschichte; die Lücke, die sein Tod hinterlassen hat, war groß – so groß wie jene, die der Tod George Bernard Shaws oder Thomas Manns gerissen hat. Ausrufezeichen. Der Rang solcher Figuren, die auf einem bestimmten Gebiet ihre Epoche beherrschen, ist im Grunde erst daran zu ermessen, ob sie nach ihrem Ableben gänzlich in Vergessenheit geraten oder sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Ich glaube, selbst im Falle Goethes ließ der Tod dessen Poesie zunächst einmal verstummen. Doch schon bald ist sie wiederauferstanden, die Menschen haben die Kraft und Wirkung des toten Dichters wiederentdeckt.
Bei Karajan und seiner Musik verlief es ähnlich. Als ich einmal einen Festvortrag über ihn vorbereitete, stieß ich auf eine interessante Umfrage: Demnach war Karajan in seiner österreichischen Heimat nicht nur bekannter als der Erzbischof von Wien und der Bundeskanzler,
sondern auch beliebter als der ziemlich populäre Otto von Habsburg und sämtliche Olympiasieger. Mehr Berühmtheit schien unvorstellbar, zumal für einen Dirigenten.
Wie aber hat er nun dirigiert? Als junger Mann war er ein Besessener. Richard Strauss, den außer seiner eigenen Musik nur weniges beeindrucken konnte, hörte ihn Ende der 1930er Jahre die Elektra dirigieren und war völlig fasziniert davon. Bekannt wurde Karajan als ein ekstatischer Dirigent: präzise, schwungvoll, ungeheuer rhythmisch. Später, nach dem Krieg, wurde er feinsinniger, seidiger. Man bewunderte den Karajan-Sound. Doch brach auch in diesen Jahren bei ihm immer wieder der alte Furor durch. Der gereifte Karajan, jener weißhaarige Maestro, den ich das Requiem von Verdi habe dirigieren hören, schaffte es, dass man sich als Zuhörer fast schon im Paradies wähnte, so zart klang alles. Unvergesslich.
Karajan erfand sich jedoch nicht nur als Musiker immer wieder neu, er hatte auch einen hervorragenden Sinn für die Verbreitung und Vermarktung seiner Kunst. Das sogenannte Produktensemble war eine seiner vielen Schöpfungen. Das heißt, er stellte für ein einzelnes Werk eine eigens ausgewählte Gruppe an Musikern zusammen. Gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern suchte er die besten Sänger aus, probte mit ihnen, gab Konzerte und produzierte Platten. Gekrönt wurde diese – heute würde man sagen – Verwertungskette meist mit einem Fernsehauftritt. Er
wusste, dass er ein großer Musiker war, und er suchte das große Publikum. Und durch diese geschickte Nutzung und Kombination aller Verbreitungsmedien konnte er nicht nur berühmt, sondern unsterblich werden. Die Philharmoniker, seine »Berliner«, denen er jahrzehntelang vorstand, waren froh, ihn zu haben. Ein Orchester ist keine bloße Ansammlung von Musikern, sondern die Institution eines bestimmten Geistes. Man könnte auch sagen, ein Orchester ist mehr als die Summe seiner Mitglieder. Was große Dirigenten mit einem Orchester machen, wie sie es prägen, das bleibt erhalten, auch wenn einzelne Musiker wechseln.
Der erste große Chef der Berliner Philharmoniker war Hans von Bülow, ein werktreuer, streng pedantischer »Orchestererzieher«. Ihm folgte Arthur Nikisch nach, in vielem genau dessen Gegenteil. Nikisch musizierte aus dem Augenblick heraus, beherrschte die Partituren geradezu nachtwandlerisch, ohne sie intensiv studiert haben zu müssen. Von ihm übernahm Wilhelm Furtwängler den Taktstock. Er vereinte in sich Bülows Präzision und Nikischs Fantasie. Als später Herbert von Karajan zu den Philharmonikern stieß, fiel sogleich sein Sinn für Klangfarben auf, seine unvergleichliche Dynamik und Brillanz. Alle diese und andere Dirigenten standen viele Jahre am Pult dieses Ausnahmeorchesters, und jeder hat es auf seine Weise stark geprägt. Jetzt ist Simon Rattle dort der Chefdirigent; man wird sehen, ob er fortführen und erweitern kann, was in Jahrzehnten gewachsen ist.
Wie sehr ein Dirigent »sein« Orchester prägt, veranschaulicht eine kleine Begebenheit, die ich mit Karajan Ende der 1960er Jahre in Luzern auf einer Konzertprobe erlebte. Er ärgerte sich über seine »Berliner«, die seit Furtwängler die Angewohnheit hatten, nicht ganz, wie man unter Musikern sagt, auf Schlag zu kommen: Wenn Furtwängler schlug, kam der Einsatz immer eine Sekunde zu spät. (Ich beschreibe das ausführlicher in dem Text »Der Taktangeber«.)
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