Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Solist ständig die Noten vor sich umblättern müsste. Aber es gibt auch Gründe, die dagegen sprechen.
Der Komponist Hans Pfitzner etwa verlangte, dass vom Blatt gespielt werden soll. Er wollte nicht, dass die Musiker ihre Noten weglegen und dann als Virtuosen triumphieren. Auch Svjatoslav Richter hat während seiner letzten Konzertjahre immer Noten dabeigehabt. Dieses Sicherheitsnetz brauchte er wohl, weil ihn sein Gedächtnis einmal im Stich gelassen hatte, als er Beethovens Hammerklaviersonate in Tokio aufführte – ohne die Noten dabeizuhaben. So ein Malheur ist das größte anzunehmende Unglück für einen Pianisten.
Wie verhält es sich nun mit der Kammermusik? Die meisten Streichquartette spielen die Stücke mit Noten, und ich halte das auch für sehr legitim. Ich verstehe gut, dass die Bratsche und die zweite Geige keine Lust haben, ihre manchmal ein wenig monotonen und blassen Figuren auswendig zu lernen. Kammermusik spielt man miteinander, sie ist ein Mannschaftssport. Bei manchen schweren Stellen, bei denen man rasch umblättern muss, steht sogar in den Noten »molto subito«, also sehr schnell wenden. Nicht ganz unkomisch, weil man gerade an solchen Stellen gar keine Zeit hat, irgendwelche Anmerkungen zu beachten.
Fazit: Das Auswendigspielen ist eine schöne Zutat, wenn es aus der Fülle kommt und dabei hilft, das Temperament des Interpreten zu befeuern. In jedem anderen Fall – die Noten zu Hilfe nehmen!
Schwer hat es der Amateur
Ist falsch spielen eine Sünde?
Bei dieser Frage muss man zwischen Berufs- und Freizeitmusikern unterscheiden. Wer die Musik zum Beruf gemacht hat, muss sich natürlich um eine möglichst fehlerfreie Wiedergabe des Werkes bemühen. Der Laienmusiker, ausgestattet mit weniger Talent und Motivation, darf hingegen auch weniger anspruchsvoll agieren. Vielleicht sollte er nicht gerade stolz auf seine falschen Töne sein, die er in seinem Kämmerlein produziert, aber fröhlich dilettieren darf er schon. Ich kann darin auch keine Respektlosigkeit gegenüber der Musik erkennen. Es gibt sogar einen Vorteil: Man erfasst und durchdringt eine Komposition aktiv gespielt viel besser, als wenn man das Stück nur als Schallplattenkonserve passiv aufnimmt.
Ich weiß sehr gut, wovon ich rede. Mit meiner eher bescheidenen pianistischen Begabung habe ich nämlich nicht nur die ganze Klavierliteratur zwischen Bach und Reger für mich zu erobern versucht, ich habe mir derart im Laufe meines Lebens auch alle großen Symphonien erarbeitet. Dadurch habe ich unendlich mehr erfahren, als wenn ich immerfort nur perfekte Einspielungen gehört oder fleißig die Partituren studiert hätte.
Für meine Umgebung war das Zuhören bestimmt nicht immer nur das reine Vergnügen, und oft, wenn ich als Dilettant das Klavier misshandelte, wurde es
recht einsam um mich herum. Aber was, bitte, heißt hier jetzt Dilettantismus? Der Wiener Kulturhistoriker Egon Friedell trat einst in Berlin als Kabarettist auf, woraufhin ihn ein Kritiker als »versoffenen Münchener Dilettanten« geißelte. Friedell antwortete mit feiner Ironie: Edlen Wein zu genießen entspringe einem humanen Impuls und steigere das Wohlbefinden, Dilettanten hätten die Kunst immer wieder befeuert. Das Wort »Münchener« allerdings werde ein gerichtliches Nachspiel haben ...
Bei allem Perfektionsdrang: Selbst die erfolgreichsten Konzertmusiker patzen immer wieder. Der Pianist Robert Alexander Bohnke, ein Freund von mir, schätzte den französischen Pianisten Alfred Cortot. Ihm unterliefen, je älter er wurde, in Konzerten mehr und mehr Fehler; und ganz Paris, ja die ganze Welt wartete immer nur darauf, dass ihn sein Gedächtnis im Stich ließ, und lachte dann schadenfroh. Aber Bohnke sagte zu mir, Cortots falsche Töne seien ihm weit lieber als die eigenen richtigen. Und der Schweizer Pianist und grandiose Beethoven-Interpret Edwin Fischer wurde einmal in London nach einem Konzert von einem jungen Bewunderer abgeholt. Dieser staunte über den schweren Reisekoffer des Pianisten. Woraufhin Edwin Fischer witzelte: »Wissen Sie, da sind alle meine falschen Töne drin.« So seien hier alle Falschtöne, die aus Liebe zur Musik erklingen, wohlwollend in Schutz genommen.
KAPITEL III
Geschmackssachen
Über Wagners vermeintlich grässliche
Operntexte, die beste Aufnahme der
»Winterreise« und Karajans Genialität
Vom Rhythmus zum Sound
Wie genial war Herbert von Karajan?
Wer heute über Karajan lästert und ihn für überschätzt
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