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Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Titel: Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Kaiser
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in eine Art suchende Virtuosität zu verwandeln. Er hatte ja eine ungeheure linke Hand, die war für den Polonaiserhythmus wie geschaffen. Auch bei anderen Stücken von Rachmaninow war er nicht zu schlagen. Wie er das g-Moll-Prelude, opus 23, oder auch das dritte Rachmaninow-Konzert spielte, war und ist beispiellos. Er hatte übrigens recht komfortable Bedingungen ausgehandelt für die Fernsehaufzeichnung des dritten Rachmaninow-Konzerts. Man versprach ihm pro Fernsehminute sage und schreibe 10 000 Dollar. Nun dauert das Stück gute 40 Minuten, das wären dann 400 000 Dollar. Solche Verträge bekommt nicht jeder – und dass Horowitz sie erhielt, lag nur an seiner unglaublichen Virtuosität.

Unerhört!
    Was störte Glenn Gould an Beethovens
Sonaten?
     
    Man sollte nicht jeden Satz, den Glenn Gould jenseits seiner musikalischen Sprache in die Welt hinausposaunt hat, mit Bedeutung überfrachten. Der maßlos gescheite Pianist gehört zu den Künstlern, die sich durch überpointiertes Sprechen und Schreiben mehr verdorben als genützt haben. Seine mitunter absurden Ansichten über Brahms, Schubert, Schumann und Beethoven halte ich für das Ergebnis einer stark ausgeprägten Provokationslust.
     
    Gould war wunderbar, wenn er sich auf Bach einließ, also wenn er dessen Variationen spielte. Sonaten gelangen ihm weniger überzeugend, da konnte er nicht immer die nötige Spannung erzeugen. Seine Interpretation der Beethoven’schen Appassionata enthält Passagen, die ich regelrecht für unerlaubt halte. Er spielte sie so, als handele es sich um eine besonders schwache Sonate, um dann zu behaupten, sie sei schlecht. Das ist schon frech.
    Dabei hat Gould Beethoven gar nicht verteufelt. Von den Sonaten existieren gleich mehrere Aufnahmen. Kurz vor seinem Tod übte Gould noch eine Sonate aus opus 2 und spielte sie einem Freund von mir vor. Er nahm sie sehr ernst und grübelte darüber, in welchem Tempo er sie angehen solle. Auch über die
drei letzten Sonaten Beethovens – die Nummern 109, 110 und 111 – hat er sich voller Respekt geäußert. Den ersten Satz der Sonate opus 109 hat er in seinem Aufbau tatsächlich mit Schönberg’schen Prinzipien verglichen.
     
    Womöglich stand Glenn Goulds Künstlerübermut einer intensiven Liebesbeziehung zu Beethoven im Wege, gespielt hat er ihn trotzdem. Manchmal sogar sehr gut. Unerhört gut!

Wie groß sind die Kleinmeister?
    Gibt es zu Recht vergessene Werke und
Komponisten?
     
    Als hochbetagter Musikkritiker habe ich schon oft erlebt, dass man bei Ausgrabungen angeblich zu Unrecht vernachlässigter Werke sehr viel deutlicher den Grund der verdienten Vernachlässigung spürt als die Notwendigkeit der Aufführung. Der Versuch, im Windschatten eines Meisterwerkes mitzusurfen, ist meistens durchschaubar. So behaupten flotte Rezensenten, Beethovens sehr schöne Sonate in F-Dur, op 54, sei genauso überwältigend und wertvoll wie seine Waldstein-Sonate, op 53. Das ist, mit Verlaub, ziemlicher Unsinn.
     
    Richtig ist, dass im 17., 18. und 19. Jahrhundert mehr komponiert wurde als heute. Es gibt also tatsächlich großartige Komponisten, die kaum bekannt geworden sind, so etwa Prinz Louis Ferdinand von Preußen (1772–1806). Beethoven sagte anerkennend über ihn: »Dieser Louis Ferdinand spielt gar nicht königlich oder prinzlich, sondern wie ein tüchtiger Klavierspieler.« Umgekehrt war Prinz Louis Ferdinand von Beethovens Eroica derart begeistert, dass er seinen Freund Franz von Lobkowitz – einen österreichischen Aristokraten, der sich ein riesiges Orchester »hielt« – darum bat, sich das damals umstrittene Werk unbedingt anzuhören. Der Musikmäzen hörte es gleich drei Mal hintereinander
an, so sehr fesselte ihn das Stück. Der Prinz hat auch selbst sehr ansehnlich komponiert. Leider Gottes starb er als tapferer Offizier in der Schlacht bei Saalfeld.
    In anderem Zusammenhang erwähne ich auch Nikolaj Medtner, einen deutsch-russischen Neoromantiker, vom Stil her seinem Freund Rachmaninow nicht unähnlich, aber ungleich weniger bekannt. Auch wenn seine Zeitgenossen ihn den »russischen Brahms« nannten, heute ist seine Musik so gut wie vergessen.
     
    Zu entdecken gibt es natürlich immer etwas. Allerdings sollten Konzertveranstalter nur dann der Öffentlichkeit eine Ausgrabung präsentieren, wenn sie von ihr auch überzeugt sind. Wird einfach nur ein unbekanntes Stück als gefälliger Diskussionsbeitrag in die Runde geworfen, beschleicht mich immer das Gefühl, man

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