Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Streichquartetten sowie seines Streichquintetts. Aber ist es wirklich Schuberts Schicksal gewesen, im Schwinden seiner Lebenskraft zu musikalischen Höchstleistungen zu erstarken? Ich habe da meine Zweifel. Mir fällt auf, dass der junge Franz Schubert nach Beethovens Tod am 26. März 1827 gleichsam aufblühte. Endlich war er von der Figur des Übervaters erlöst, konnte aus dessen Schatten treten und neue Kraft schöpfen. Und siehe da: In seinen letzten anderthalb Lebensjahren hat Schubert tatsächlich noch mehr geschaffen als vorher, vielleicht auch noch Gewaltigeres.
Über die Frage nachzudenken, was Schubert nach seinem Tod für Stücke geschrieben hätte, ist sicher sehr reizvoll – mindestens so reizvoll wie darüber nachzudenken, was wohl andere Genies wie Mozart, der schon mit 35 Jahren starb, oder Chopin, der nur 39 Jahre alt wurde, nach ihrem Tode komponiert hätten. Es ist reizvoll, und doch ganz aussichtslos. Seriös beantworten lässt sich das nicht. Die Futurologie verlängert
nur Linien von der Gegenwart in die Zukunft, und das führt ja schon bei Wirtschaftsprognosen immer wieder in die Irre. Der lebendige, schöpferische Mensch ist platterdings kein Stoff für Computeranalysen oder Kaffeesatzlesereien. Die Linien des Lebens sind nicht vorhersehbar. Niemand kann wissen, ob aus dem jungen, genialen Schubert später eine Art Bruckner geworden wäre. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Bei allem Spekulieren über das Spätwerk sollte man auf keinen Fall das Frühwerk unterschätzen. Der siebzehnjährige Schubert hat immerhin schon das Lied Gretchen am Spinnrade komponiert, mit knapp zwanzig dann die magische Melodie zum Matthias-Claudius-Lied Der Tod und das Mädchen , die er später in seinem d-Moll-Streichquartett so wunderbar variierte. Zu den frühen Werken gehört auch die Wandererfantasie, deren wunderbare cis-Moll-Adagio-Variationen beinahe ins Jenseitige lappen. Und die Vierte Symphonie, die tragische, ist ihm mit neunzehn Jahren aus der Feder geflossen. Lauter tiefgründige Kompositionen. Ob er solche Werke später, als alter Mann, geschrieben hätte? Seien wir froh, dass wir sie von einem jungen Schubert geschenkt bekommen haben!
Virtuose mit starker linker Hand
Wie erklärt sich die ungebrochene
Popularität des 1989 verstorbenen Pianisten
Vladimir Horowitz?
In der Frage steckt natürlich auch die Frage nach dem Rang. Also: War Vladimir Horowitz der beste Pianist von allen? Darauf, finde ich, kann man nicht seriös antworten. Den oberen Rang der Klavierkunst bevölkern auch andere, so etwa Claudio Arrau, Franz Liszt, Arthur Rubinstein, Solomon, Svjatoslav Richter, Glenn Gould und Friedrich Gulda. Auch andere wären zu nennen. Einen besten kann es da nicht geben.
Aber der faszinierendste, der farbenreichste Pianist ist Horowitz auch für mich gewesen. Bis zuletzt ist dieser vor Fantasie und Kreativität berstende Künstler nicht der häufig anzutreffenden Notenperfektionssucht verfallen. Es ging ihm gar nicht so sehr um Perfektion, wie es viele Schallplattenaufnahmen vermuten lassen. Im Livekonzert verspielte er sich durchaus. Wichtiger war ihm der lebendige Ausdruck. Manchmal spielte er für mein Empfinden einen Tick zu manieriert. Zum Beispiel überlud er die eigentlich schlichten Kinderszenen von Robert Schumann. Als ich einmal mit dem französischen Dirigenten Pierre Boulez über Horowitz sprach, bestätigte dieser meine Auffassung: »Ja«, sagte Boulez, »den Skrjabin interpretiert er mit all seiner Fülle und seiner enormen Differenziertheit richtig, aber bei Schumann übertreibt er doch allzu sehr.«
Horowitz war ein Nervenmusiker, der an der Grenze zur Exzentrik agierte, das machte seine Faszinationskraft aus. Vor Konzerten war er äußerst nervös. Immer wieder durchlitt er künstlerische Krisen und depressive Phasen und sah sich gezwungen, längere Schaffenspausen einzulegen. Einmal machte er sogar zwölf Jahre Pause, von 1953 bis 1965. In dieser Zeit spielte er nur noch Schallplatten ein. Als er Anfang der 1960er Jahre ein paar Freunden ein kleines Hauskonzert gab, waren alle begeistert und sagten: »Du warst nie besser als jetzt nach dieser langen Pause.« Da antwortete er: »Schön, dann probiere ich ein Comeback.« Seitdem lobte man allerorten seine überwältigende Technik ebenso wie die enorme Variabilität seines Spiels und den Reichtum seiner Klangfarben. Seine Chopin-Variationen von Rachmaninow waren so einzigartig, weil er es verstand, seine Technik
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