Sprengkraft
Veller: »Euer Täter hat hier mit Sprengstoff hantiert.«
»Warum hat Hero nicht gebellt?«
»Das soll er nicht. Die Hunde sind so trainiert, dass sie stillhalten, wenn sie etwas finden, damit sie sich im Notfall nicht selbst gefährden.«
»Hier soll also Sprengstoff gelegen haben?«
»Mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit.«
Veller verständigte das Labor.
Er ließ sämtliches Material aus Stills Archiv in seine Dienststelle schaffen. Zweiundfünfzig Kisten, die sich an den Wänden des Besprechungsraums stapelten. Er schnappte sich eine davon und trug sie in sein Zimmer.
Auf mehreren Hüllen stand IM. Veller interpretierte das als Informeller Mitarbeiter und hoffte auf Erkenntnisse über Yassin alias Dennis Scholl. Er legte die erste DVD in das Laufwerk, wurde jedoch enttäuscht.
Mit den weiteren Datenträgern ging es ihm ähnlich. Sie enthielten Videoaufnahmen aus verschiedenen Büros. Telefonate, Gerede von Menschen, die Veller nicht kannte und die sichtlich keine Ahnung hatten, dass sie gefilmt wurden. Veller glaubte zunächst, Szenen aus der Zentrale der Freiheitlichen zu beobachten, dann erkannte er, wofür IM stand: Still hatte die eigene Behörde ausgespäht, das nordrhein-westfälische Innenministerium, inklusive der Büros von Minister Andermatt und seinem Pressesprecher. Veller sah und hörte genauer hin. Nichts Brisantes – Still war einfach ein durchgeknallter Kontrollfreak. Ein Sammler und Paranoiker, der jedes Maß verloren hatte.
Dann stieß Veller auf ein Gespräch, das Andermatts Sprecher mit einem Besucher führte, der leider nicht zu erkennen war.
Als Leiter der Pressestelle bin ich bevollmächtigt, Beträge bis zehntausend Euro ohne Rücksprache abzuzeichnen. Also ist erheblich mehr für Sie drin. Sagen wir neun statt drei? Davon zahlen Sie mir zwei in bar als Provision zurück.
Ein Angestellter der öffentlichen Verwaltung erteilte einen Auftrag gegen private Zuwendung – eindeutig strafbar. Veller beurteilte Still nun differenzierter: Der Verfassungsschützer hatte Material gesammelt, das Macht bedeutete, Sprengstoff im übertragenen Sinn. Ob Still den Ministeriumssprecher erpresst hatte, war zu überprüfen. Und unabhängig von Vellers Staatsschutzermittlung würde sich die Strafverfolgung mit dem Leiter der Pressestelle beschäftigen müssen.
Veller holte sich die nächste Kiste. Auf jeder Hülle der gleiche Name: Tonia.
Er schob die erste Silberscheibe in das Laufwerk.
Eine junge Frau in ihrem Zuhause – ein Kontrast zu dem, was Veller bislang gesehen hatte. Kein Büro, keine Politik, keine Dienstgespräche. Nur ein Mädchen, das frühstückte, vor dem Fernseher saß und ein paarmal mit Bekannten telefonierte.
Veller kontrollierte die Beschriftung: Das Datum lag rund sechs Monate zurück. Die Kiste enthielt siebenundvierzig Discs, die Aufnahmen deckten die letzten drei Jahre ab. Der Rekorder hatte auf Tonsignale reagiert, bei völliger Stille schaltete er ab. Veller legte die nächste Scheibe ein. Eine andere Kameraperspektive. Das Mobiliar war umgeräumt, einige Stücke ausgetauscht. Veller wurde klar, dass es sich um eine andere Wohnung handelte. Die Frau war jedoch dieselbe geblieben. Nach der achten DVD wusste Veller, dass sie häufiger umzog.
Sie trug langes, hellbraunes Haar und meist eine ovale Brille mit einfachem Metallgestell. Selten empfing sie Freunde, man kochte und aß. Veller fiel auf, wie sorgfältig die junge Frau Ordnung hielt und wie hastig sie durch die Räume huschte, als spürte sie den Blick des Beobachters.
Veller kramte nach der ältesten Aufnahme und spielte sie ab. Erneut eine andere Wohnung. Als die Frau nackt aus dem Bad kam, schätzte Veller sie auf etwa zwanzig Jahre. Den Gesprächen, wenn sie telefonierte, entnahm er, dass sie studierte. Vermutlich Medizin.
Auf dieser Scheibe wirkte sie unbeschwerter. Plötzlich sah Veller sie auf dem Sofa liegen und masturbieren. Es war ihm peinlich, er schaltete auf schnellen Vorlauf. Ihm fiel ein, dass es auf keiner anderen DVD eine Sexszene gegeben hatte.
Draußen begann es zu dämmern. Veller beschloss, Anna hinzuzuholen. Vier Augen sahen mehr als zwei, außerdem wollte er die Kollegin auf diese Weise davon abhalten, Feierabend zu machen und ihren Freund zu treffen. Jonas und ich, seit über drei Jahren zusammen.
Tonia kurvte mit dem Staubsauger durch das Zimmer, hastig, fast wie im Zeitraffer. Datenträger Nummer zehn.
»Unser Typ ist anscheinend ein Voyeur«,
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