Sprengkraft
sagte Veller. »Der Inhalt einer ganzen Kiste hat diese Frau im Fokus. Wie bei Big Brother, nur wohnt das arme Ding allein.«
»Ich hab mir die Mitschnitte aus den Büros der Freiheitlichen angeguckt«, antwortete Anna. »Nichts, was jemanden vom Hocker hauen könnte. Keinerlei Zusammenhang mit der Bombe, wenn man davon absieht, dass der 16. März die Beliebtheit der Freiheitlichen deutlich gesteigert hat.«
»Vielleicht lag gerade darin das Motiv.«
Anna deutete auf den Monitor. »Wer, sagtest du, ist diese Frau?«
»Keine Ahnung.« Veller sah noch einmal auf der Hülle nach. » Tonia steht hier. Sie ist Anfang zwanzig, studiert und hat selten Besuch, meistens Kommilitoninnen, mit denen sie lernt. Still scheint einen Narren an dem einsamen Mädchen gefressen zu haben, aber frag mich nicht, wieso.«
»Diese Frau habe ich schon einmal gesehen«, sagte Anna.
»Wo?«
»Keine Ahnung.«
Sie starrten beide auf den Bildschirm. Tonia hatte jetzt Besuch. Eine Freundin – von hinten sah man nur ihr blondes Haar. Die beiden tranken Wein. Auf einem dreiarmigen Ständer flackerte eine einzelne Kerze. Veller drehte den Ton lauter. Die beiden Frauen redeten über Tonias Vermieter, einen unfreundlichen Kerl, der im gleichen Haus wohnte.
»Ohne ihre Brille ist sie fast blind und sie bindet sich gern Tücher um den Hals, wenn sie die Bude verlässt«, stellte Veller fest, als könnte er damit Annas Erinnerung auf die Sprünge helfen.
Die Kollegin reagierte nicht. Veller drückte den schnellen Vorlauf. Die Freundin ging, Tonia war wieder allein. Im Zeitraffer zog sich das Mädchen aus, kroch ins Bett, stand bei Tageslicht auf und frühstückte.
Normale Geschwindigkeit: Tonia trank Kaffee aus einem Becher und las ein Buch, in dem sie gelegentlich etwas anstrich.
»Studentin?«, fragte Anna.
»Medizin.«
»Ich glaube, ich weiß jetzt, wer das ist.«
Anna griff nach der Fernbedienung und hielt das Bild an. Das Mädchen erstarrte in einer Bewegung, die das Gesicht von vorn sehen ließ, fast als blicke Tonia in die Kameralinse.
»Kannst du das Bild ausdrucken?«
Veller bewegte die Maus, klickte einige Male, dann surrte sein Drucker, ein sehr langsames Gerät.
»Spielst du Schach?«, fragte Anna, die aufgestanden war und das Brett auf dem Aktenschrank bemerkt hatte.
»Ein wenig«, antwortete Veller und hatte sofort ein schlechtes Gewissen.
Das Videoprint lag im Ausgabefach. Anna griff danach.
»Komm mit«, sagte sie.
»Möchtest du fahren?«, fragte Veller. »Ich müsste mal telefonieren.«
Er warf ihr den Schlüssel zu und stieg auf der Beifahrerseite des Alfa ein.
Während sie vom Parkplatz rollten, rief Veller seinen Vater an.
Am anderen Ende meldete sich Frau Windisch, Vitus Vellers Nachbarin, die manchmal Einkäufe für den alten Herrn machte und jeden Tag nach ihm sah.
»Wie geht’s ihm?«, erkundigte sich Veller.
»Besser.«
»Was heißt ›besser‹? Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Er hat getrunken und Beethoven gehört. Die Anlage war bis zum Anschlag aufgedreht, deshalb habe ich ihn noch rechtzeitig gefunden.«
»Rechtzeitig?«
»Der Notarzt meinte, er hätte am Erbrochenen ersticken können.«
»Verdammt.«
»Heute Nachmittag haben sie ihn schon wieder nach Hause geschickt.«
»Er war im Krankenhaus?«
»Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Geben Sie ihn mir mal.«
»Ich weiß nicht, ob ihm das recht ist. Sie kennen ihn doch, wie er reagiert, wenn man sich um ihn sorgt.«
»Bitte, Frau Windisch.«
Veller hörte Gemurmel, dumpfe Geräusche, dann war die brüchige Stimme seines Vaters in der Leitung.
»Paul, du hast verloren. Zeitüberschreitung.«
»Sei doch nicht so streng.«
»Du solltest mal wieder Beethoven hören. Fidelio, ganz große Kunst. Es geht um Liebe und Treue. Aber das sind ja Fremdwörter in der heutigen Zeit.«
»Ich komm dich besuchen, Paps.«
»Wann?«
Veller zögerte.
Sein Vater sagte: »Ich geb dir Frau Windisch«, und bevor Veller protestieren konnte, hatte er wieder die Nachbarin am Apparat.
Leise fragte sie: »Wissen Sie noch die Aufstellung Ihres letzten Spiels, bevor es unterbrochen wurde?«
»Klar.« Veller hatte ein Brett im Büro und eines zu Hause. Die Figuren standen bereit für den nächsten Zug.
»Können Sie eine Zeichnung machen und Ihrem Vater schicken? Er hat nämlich Fidelio dirigiert und im Hinfallen das Schachbrett vom Tisch gestoßen. Ich glaube, er würde die Partie gern zu Ende
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