Spur der Flammen. Roman
Candice, so gut er konnte, führte ihre Hand da an, wo er Halt gefunden hatte. Was hätte er darum gegeben, jetzt Haken, Karabiner und jede Menge Sicherungsseil zur Hand zu haben.
An manchen Stellen verharrte Candice voller Angst und musste ermuntert werden. Einmal glitt sie aus, schrie auf und griff nach seiner Hand. Er packte sie am Arm und hielt sie mit festem Griff, als ihr der Rucksack von der Schulter rutschte und in die Tiefe fiel.
»Keine Ententanz-Position«, rief er gegen den Wind. »Halten Sie die Ellenbogen enger am Körper, wie ich es tue. Sie schaffen es! Ganz ruhig.«
Er sah, dass ihre Beine unkontrolliert zitterten, eine Erscheinung, die unter Kletterern gemeinhin als ›Nähmaschine‹ bezeichnet wurde und von überstrapazierten Muskeln herrührte. »Sie haben guten Stand. Schmiegen Sie sich an den Fels und machen Sie jetzt mal den ›toten Mann‹.«
»Bitte was?«
»Ja, hängen Sie sich von Ihrem Halt mit gestreckten Armen ab, damit Ihr Körpergewicht von Ihrem Skelett und nicht von den Armmuskeln gehalten wird. Ja, genauso.«
Sie kletterten weiter.
Eine Gewitterbö zog heran, schwarze Wolken türmten sich über ihnen, begleitet von Donnergrollen und zuckenden Blitzen. Der Wind wurde heftiger, drohte die zerbrechlichen Körper von der Felswand zu fegen.
Verzweifelt suchten Candices Hände nach einem Halt, schickten Geröll und Steine zu Tal. »Sie dürfen nicht gegen den Berg ankämpfen«, rief Glenn. »Lassen Sie ihn helfen.«
Sie zwang sich zu einer Verschnaufpause, lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Felswand, obwohl die Angst sie eigentlich vorantrieb. Sie legte die Wange an den Felsen und atmete den Geruch des alten Gesteins. Der Wind zerrte an ihr, wollte sie fortreißen, aber sie schmiegte sich in dieses uralte Gestein und spürte, wie die Wärme des Tages vom Felsen direkt auf sie überging. Ein unerwartet angenehmes Gefühl. Sie schloss die Augen. Ihr Atem wurde gleichmäßiger. Jetzt empfand sie dieses uralte, raue, vom Zahn der Zeit geschundene Gestein nicht mehr wie einen Feind, eher wie eine natürliche Kraft, die ihr Sicherheit schenkte. Sie brauchte keine Angst mehr zu haben.
Das gab ihr Zuversicht weiterzuklettern.
Sie erreichten eine Stelle, an der nur noch glatter Fels zu sehen war. Es gab keine Spalten, Ritzen oder Vorsprünge, an denen man sich festhalten konnte. Glenn starrte auf die Wand über ihm. Sie waren auf der Windseite des Berges gefangen, und über ihnen dräute das Gewitter.
Plötzlich rief Candice: »Ich hab einen!«, streckte den Arm aus, fand einen sicheren Griff, zog sich an Glenn vorbei in die Höhe, spreizte zu einem Tritt hinüber und wies auf den Halt, den sie gefunden hatte. Er zog sich zu ihr hoch, und danach war es, als seien sie ihr Leben lang zusammen geklettert. Sie stiegen abwechselnd, mal der eine, mal der andere vorn. Glenn bemerkte eine neue Elastizität und Sicherheit in Candices Bewegungen, als spüre sie den gemeinsamen Rhythmus des Kletterns. Es war wie ein Tanz, den sie in der Abendröte vollführten.
Als die Wand sie endlich freigab und die beiden ganz oben standen, bereitete eine feuerrote Sonne gerade ihren Abschied von diesem Tag vor und tauchte alles in Rot und Gold, während die dunklen Gewitterwolken weitertrieben, über Daedana hinweg hinaus in die Wüste.
Candice stand regungslos auf dem Gipfelkamm, mit weit aufgerissenen Augen, offenem Mund und bleichem Gesicht.
»Alles in Ordnung«, sagte Glenn, der nur zu gut verstand, was in ihr vorging. Er hatte es zur Genüge bei Anfängern erlebt: die große Erleichterung, wenn der Gipfel erreicht war, gepaart mit den Nachwirkungen des Schreckens. Und dann die Panik, ohne Halt so ausgesetzt in der Höhe zu stehen. Manch einer hatte danach nie wieder einen Berg erklommen. »Nehmen Sie meine Hand.«
Sie rührte sich nicht.
»Sie schaffen es«, sagte er und dachte dabei daran, wie ein Professor sie an der Großen Pyramide zu einer Kletterpartie herausgefordert hatte. Nur gab es hier keinen Hubschrauber, der einen im Notfall abholte. »Wir müssen jetzt absteigen«. Glenn nahm sie bei der Hand. »Sie werden es schaffen. Nur nicht loslassen.«
Sie fanden einen relativ einfachen Weg nach unten, einen, der wohl schon vor zweitausend Jahren von den Wasserbauingenieuren Daedanas geschaffen worden war.
Als sie im Lager ankamen, waren der Toyota Landcruiser und die angeheuerten Fahrer verschwunden. Keine Spur von Ian, obwohl sein Segeltuchbeutel noch auf dem Beifahrersitz des
Weitere Kostenlose Bücher