Spur der Flammen. Roman
überwältigt, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Er zog ein Taschentuch heraus und bestimmte: »Dann werden Sie eben nicht nur den Platz, sondern auch das Essen mit mir teilen. Ohne Freunde ist man verraten und verkauft«, fügte er, der Hunderte zu haben meinte, noch hinzu.
Keyes lief hin und her. Wie ein Tiger im Käfig, befand Jeremy. Der Neue hatte nicht geschlafen, verweigerte das Essen, und jetzt ging er auf und ab, den Blick auf die Gittertür geheftet. Tags zuvor hatte er behauptet, dass niemand kommen würde – was also erwartete er an der Tür zu erblicken?
Armer Teufel, dachte Jeremy und besah sich im Spiegel. Cummings war dabei, ihn zu frisieren, als befänden sie sich in seinem Stadthaus in Mayfair. Niemand hatte Keyes mitgeteilt, für wann die Hinrichtung geplant war. Sie konnte heute stattfinden oder aber erst in einem Monat.
»Was für eine grausame Strafe für freie Meinungsäußerung«, murmelte Jeremy vor sich hin, allerdings nicht zu laut, um nicht selbst des Hochverrats bezichtigt zu werden. »Erst neulich merkte ich Ihrer Königlichen Hoheit, der Duchess of York gegenüber an …« Er brach ab und seine Augen wurden kugelrund. »Wen haben wir denn da?«, platzte er heraus, und Keyes fuhr herum, neugierig geworden, was Jeremy derart in Erstaunen versetzte.
»Emma!«
Jeremy erhaschte einen Blick auf etwas Aprikosen- und Gelbfarbenes, das sogleich wieder von den unmittelbar neben den Gittern angeketteten Leibern verdeckt wurde, die sich jetzt an diese Gitter drängten, ihre abgemagerten Arme ausstreckten und um etwas zu essen flehten, um Geld und Freiheit. Die Stimme des Aufsehers erhob sich über dem Tumult, sein Knüppel schlug an die Gitterstäbe, scheuchte die Jammergestalten zurück. Sie schlurften wieder auf ihre Plätze an der nach Moder stinkenden Wand und sahen zu, wie die Gittertür aufging und einer elegant gekleideten Lady mit Hut Zutritt gewährte.
»Emma!«, sagte Keyes nochmals und eilte auf sie zu. »Ich habe dir doch verboten herzukommen.«
»Frederick, ich konnte nicht anders. Ich …«
Sie schluckte und riss die Augen auf, als sie der qualvoll aufstöhnenden, nur noch aus Haut und Knochen bestehenden armen Schlucker ansichtig wurde, der gierig ausgestreckten Hände der dem Hunger Preisgegebenen, der verdreckten und mit Wanzenbissen übersäten Nackten mit den bis zur Brust herabfallenden Bärten, der Vergessenen und Heimatlosen, die, weil sie Brot gestohlen oder jemandem in die Tasche gegriffen hatten, hier einsaßen und um Essen, Wasser und Gnade bettelten.
Jeremy beeilte sich, ein sauberes Plätzchen für die Lady freizumachen, und Keyes half ihr, sich hinzusetzen, wobei er ihre Hände nicht losließ und ihr abermals, wenngleich liebevoll Vorhaltungen machte, hergekommen zu sein. Dennoch, fügte er hinzu, freue er sich über ihren Besuch.
Emma Venables war der zweite Grund, weshalb Keyes hängen sollte.
Obwohl sie von Geburt an dem Geheimbund der Alexandrier angehörte, war er ihr bis vor einem Jahr noch nie begegnet. Kein Wunder – deren Mitglieder gingen inzwischen in die Tausende und waren über den gesamten Globus verteilt; einige lebten sogar in Amerika, weshalb es unmöglich war, mit allen in Verbindung zu stehen. Emma Venables hatte er anlässlich der Beisetzung ihrer Eltern kennen gelernt, die durch die Hand eines Straßenräubers ums Leben gekommen waren – er hatte auf einer Landstraße ihre Kutsche angehalten und Geld oder Leben gefordert und ihnen letztendlich beides genommen. Der Mörder war gefasst und an der Kreuzung vor der nächstgelegenen Stadt aufgeknüpft worden; zur Abschreckung weiterer Übeltäter hatte man die Leiche noch wochenlang hängen gelassen.
In den darauf folgenden Monaten hatten sich die beiden häufig getroffen, und aus der Freundschaft war innige Liebe erwachsen. Dass sie heiraten würden, stand bereits fest – bis er verhaftet worden war.
Weil ein anderer ein Auge auf sie geworfen hatte.
Emma Venables stammte von Ritter Alarich ab und genoss schon deshalb bei den Alexandriern hohes Ansehen. Wer sie als Braut heimführen würde, konnte sich glücklich preisen. Keyes argwöhnte, dass Desmond Stone, der Mann, der ihn in eine Falle gelockt und diesem schaurigen Ort ausgeliefert hatte, insgeheim dem Gedanken nachhing, nicht nur als Architekt für Morvens Sicherheit zu fungieren, sondern sich darüber hinaus an die Spitze des Ordens zu stellen und dessen zunehmenden Reichtum und Einfluss für seine ureigenen
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