Spur der Flammen. Roman
sie Frederick Verpflegung mit, Decken und Kleidung zum Wechseln. Sie blieb den ganzen Tag über, verwöhnte ihn mit gekochten Eiern, frischem Brot und Bier. Auch Spielkarten und Bücher hatte sie bei sich, berichtete über das, was an Klatsch die Runde machte. Ohne Hut und Handschuhe abzulegen, saß sie, derweil sich Frederick einen Platz zum Arbeiten freiräumte, in Jeremy Lambs Zellenecke, selbstbewusst und so, als stattete sie jemandem von hohem gesellschaftlichen Rang einen Besuch ab. Beide wussten, dass sich der Innenminister jeden Augenblick einschalten und Fredericks Freilassung anordnen konnte, waren doch die Alexandrier vermögend und einflussreich. Bis es so weit war, entwarf Frederick erste Skizzen, während Emma von dem skandalösen neuen Tanz berichtete, der von Wien aus England eroberte. »Stell dir nur vor – da liegen sich ein Mann und eine Frau volle vier Minuten lang auf einer überfüllten Tanzfläche in den Armen! Aber einmal ausprobieren würde ich diesen Walzer dennoch gern. Vielleicht wenn du hier rauskommst, Frederick.«
Jeremy ließ die beiden nicht aus den Augen. Und als er in Emmas Blick, wenn sie Keyes ansah, etwas entdeckte, das mehr war als Liebe, nämlich Hochachtung und Bewunderung, fast Verehrung, so als wäre Frederick Keyes ihr Gott, musste er sich eingestehen, dass er für niemanden ein Gott war, nicht einmal für einen Hund.
Als sich die Gittertür öffnete und der Gefängnisgeistliche die Zelle betrat, bekam Frederick vor Schreck weiche Knie. Jeden Tag wachte er mit dem Gedanken auf, es könnte sein letzter sein, und bevor er einschlief, überlegte er, ob dies wohl seine letzte Nacht sein würde. Und jetzt war es so weit – der Geistliche war gekommen, um mit ihm zu beten!
Aber der Geistliche kam zu einem anderen, und während er sich durch das stinkende Halbdunkel den Weg bahnte, schämte sich Frederick für das Gefühl der Erleichterung, dass nicht er es war, für den der Galgen bereitstand.
»Jeden Sonntag wird hier im Gefängnis eine Messe abgehalten«, klärte Jeremy Frederick auf, während Cummings über der kleinen Spirituslampe, die Emma mitgebracht hatte, Wasser für Tee erhitzte. Emmas Besuche kam auch anderen zugute: So waren beispielsweise Cummings’ Füße neuerdings bandagiert, damit die eisernen Fesseln nicht mehr so scheuerten, und die bereits wunden Stellen konnte er ab sofort mit einer Salbe behandeln. »Ich hab spaßeshalber mal an einer Messe teilgenommen. Es herrschte ein derartiges Durcheinander, dass der Kaplan bei seiner Predigt brüllen musste, um sich Gehör zu verschaffen.«
Dass auch für die Todeskandidaten Messen gelesen wurden und sich die Gefangenen dann am Sonntag vor ihrer Hinrichtung an ihren bereitgestellten Särgen eine ellenlange Predigt anhören mussten, behielt er taktvollerweise für sich. »Eigentlich sollen die Kapläne den Häftlingen Beistand leisten, ihr Gewissen zu erforschen, aber für gewöhnlich sind sie mehr darauf aus, sich deren Geschichten anzuhören, damit sie sie dann für gutes Geld an die Skandalblätter verkaufen können. Auf so was ist die Leserschaft nun mal versessen.«
Am folgenden Morgen, kurz nach Emmas Ankunft, hob die Glocke im Turm zu läuten an – das Zeichen für eine bevorstehende Hinrichtung durch den Strang –, und ein Mann ging mit einer Schelle durch den Zellenblock und rief:
All ihr, die ihr verurteilt seid,
Zum letzten Gang macht euch bereit.
Geht in euch, betet, denn die Stunde naht,
Da ihr vor Gott den Herrn zu treten habt.
Prüft euch genau, bereut, was Übles in euch ward,
Auf dass nicht ew’ge Verdammnis euer harrt.
Und wenn’s dann morgen von Sankt Sepulchrum schellt,
Verlasst auf Gott vertrauend diese Welt!
Jeremy und seine beiden Freunde sahen zu, wie man dem armen Wicht, der nur noch aus Haut und Knochen bestand, die Fesseln abnahm und ihn, ohne dass er Widerstand leistete, abführte. Emma konnte nicht umhin, einen verblüfften Ausdruck in seinen Augen wahrzunehmen, so als hätte er keine Ahnung, wo er sich befand und warum.
»Was hat er verbrochen?«, fragte sie. Ihr Gesicht war angespannt und bleich.
»Er trug die Post aus und wurde zum Tode verurteilt, weil er einen Brief unterschlug, in dem sich zehn Pfund befanden. Hat, wie man mir sagte, sechs Monate auf seine Hinrichtung gewartet.«
Emma fing an zu weinen, fing sich dann aber wieder. Frederick würde ganz gewiss ein solches Schicksal erspart bleiben. Sie vertraute darauf, dass die Alexandrier
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