Spur der Flammen. Roman
Er war mit sich zufrieden. Der Sechsunddreißigjährige war überaus penibel, ein Mann, der zum Ankleiden Stunden brauchte und für gewöhnlich drei Friseure beanspruchte – einen für die Koteletten, einen für die Stirnlocke und einen für den Hinterkopf (obwohl er sich an diesem Morgen der traurigen Zustände mit Cummings begnügen musste).
»Kleider machen Leute, Cummings, vergessen Sie das nie«, sagte er und wandte sich vom Spiegel ab und den Anforderungen des Tages zu, die unter den gegebenen Umständen dürftig genug waren. Aber zumindest ging das Gerücht von der bevorstehenden Einlieferung eines neuen Gefangenen um. Und so etwas war immer eine Abwechslung.
Kaum hatte sich Jeremy zu seinem aus Brot und Bier bestehenden Frühstück niedergelassen, als besagter Neuzugang an die vergitterte Tür gebracht wurde. Wie das jede Abwechslung mit sich brachte, wurde ihm sofort die Aufmerksamkeit sämtlicher Zelleninsassen zuteil, sodass Jeremy zumindest für ein paar Minuten ungestört essen konnte (und nicht wie sonst von den anderen angebettelt wurde. Aber wenn er sein Brot mit allen teilte, was bliebe ihm dann noch selbst?). Kaum war der Neue in Augenschein genommen und danach eingeschätzt worden, ob man ihn links liegen lassen konnte oder ob es sich lohnen würde, ihn zu bestehlen, hob das für gewöhnlich ohrenbetäubende Lärmen in der Gefängniszelle wieder an und verleidete Jeremy das Frühstück.
Er musterte den Neuen von oben bis unten.
Kein üblicher Krimineller. Stattdessen erkannte Jeremy in ihm einen gleichwertigen Gentleman, denn der Neue trug über einer gestreiften Weste eine lange Jacke mit abgerundeten Vorderschößen sowie altmodische weiße Kniehosen. Eigentlich sah er aus wie ein vornehmer Spaziergänger und keinesfalls wie ein armer Teufel, den man da ins Gefängnis von Newgate eingeliefert hatte, dem grässlichsten Ort überhaupt. Jeremys Interesse wuchs, als er den Anzug des Neuen als maßgeschneidert ausmachte – als Kunde in der Bond Street wusste er genau, wie der Faden des Tuchs, die Richtung von Schuss und Kette zu verlaufen hatte. Fragte sich nur, weshalb der arme Kerl einsaß. Höchstwahrscheinlich wegen Veruntreuung von Geldern. Wie ein gewöhnlicher Dieb oder Schuldner sah er jedenfalls nicht aus. Möglicherweise sollte er nach Australien abgeschoben werden, wie so viele, von denen wiederum die meisten vorzogen, aufgeknüpft zu werden. Aber seit die amerikanischen Kolonien von Großbritannien abgefallen waren und England infolgedessen einen neuen Platz zur Entsorgung unerwünschter Elemente brauchte, war man nun mal auf Australien verfallen, auch wenn die Reise dorthin unendlich lange dauerte und derart viele Risiken barg, dass viele sie nicht überlebten.
Der Neue war ungemein erregt, leistete seinen Wärtern Widerstand und behauptete immer wieder, zu Unrecht verurteilt zu sein. Als ob ihm das etwas nützen würde. Als die Tür zufiel und versperrt wurde, umklammerte der Mann die Gitterstäbe und beteuerte weiterhin lauthals seine Unschuld.
Nach einer Weile ließ er von seinem Tun ab und sah sich in dem Albtraum um, in den er geraten war. Nacktes Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Anzunehmen, dachte Jeremy, dass auch er, der zwei Wochen zuvor zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem Gefängnis gemacht hatte, so dreingeschaut hatte. Der Höllenlärm, das Gebrüll und Geschrei, der Gestank und der Dreck, die unerträgliche Atmosphäre von Brutalität und Korruption schlug einem entgegen und war gewöhnungsbedürftig. Was Jeremy an dem Neuen noch auffiel, war, dass er nicht die schweren Beinfesseln trug, mit denen die meisten anderen zur Sicherheit an im Boden und an den Wänden befestigten Eisenringen angekettet wurden. Da andererseits die Möglichkeit bestand, dass ein Gefangener gegen Geld leichtere Fesseln angelegt bekam oder, sofern er die dafür erforderliche Summe aufbrachte, vollends davon befreit wurde, folgerte Jeremy, dass der Neue nicht mittellos war, nicht anders als er selbst, hatte doch sein Vater zähneknirschend tief in die Tasche gegriffen, um seinem Sohn wenigstens die Eisenfesseln zu ersparen.
Der Neue lief erregt auf und ab, hieb sich mit der geballten Rechten in den linken Handteller, schimpfte vor sich hin. Als er über einen Mitgefangenen stolperte, der mit dem Rücken an der Wand auf dem Boden hockte und die Beine ausgestreckt hatte, stieß er ein »Verzeihung« aus und bemerkte, als dieser sich nicht rührte, dessen auffallend verfärbtes
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