Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman

Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman

Titel: Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Temple
Vom Netzwerk:
sie auch nicht wieder geweckt. Da bin ich einfach ausgerastet. Wie kann die verdammte Arbeit so wichtig sein, dass ein Vater nicht zum Geburtstag seiner kleinen Tochter nach Hause kommt? So was hab ich gesagt. Ich mein, kann man mir das verdenken?«
    Unser Gespräch war vermutlich von therapeutischem Wert für Meryl, aber mir brachte es gar nichts. Die Aussicht verlor auch allmählich ihren Reiz.
    Sie zündete sich noch eine Zigarette an: »Also, er hat gesagt, Dean hat gesagt, hör zu, reiß dich zusammen, ich bin hier schließlich nicht zum Vergnügen. Er war sauer. Echt sauer. Hat mich angebrüllt. Hatte er noch nie gemacht. Noch nie.« Sie ließ den Kopf sinken.
    Schweigen. Ich konnte spüren, wie sie zitterte.
    »Meine Güte, wird das kalt. Dann ist es wieder heiß. Hab mich hier noch nie wohlgefühlt, seit ich hergekommen bin nicht. Noch nie. Ich hasse diese Stadt.«
    Sie schüttelte den Kopf, kratzte sich im Gesicht. Sie brauchte dringend chemische Erleichterung. Sie blickte mich wieder an, Tränen im Gesicht, streckte die Hand aus, legte sie auf meine Brust, auf mein Herz, neigte den Kopf. »Ich hab ihn so sehr geliebt«, sagte sie. »Ich komme einfach nicht damit klar. Ein dummer, schwacher Mensch bin ich.«
    Ich legte meine Rechte über ihre Hand und drückte sie. »Nein«, sagte ich, »Sie sind ein starker, mutiger Mensch. Was hat er denn gebrüllt?«
    »Er hat gesagt – er hatte was getrunken, das hab ich immer sofort gemerkt – er hat gesagt: ›Noch zwei Tage mit diesem Scheiß-Connors, und ich bin wieder zu Hause und die verdammte Black Tide ist vorbei.‹«
    »Der Name. Connors. Sind Sie sicher?«
    »Ja.« Schniefen. Sie lehnte sich zurück. »Connors. Das hat er gesagt. Dieser Scheiß-Connors.«
    »Und das andere, Black Tide? Genau so?«
    »Ja. Black Tide.«
    »Wussten Sie, was das bedeutet?«
    »Nein.« Schniefen. »Na ja, ich kannte den Namen, wusste aber nicht, was das sein sollte.«
    Ich wartete.
    Schniefen. »Wir waren mal zum Barbecue bei den Conroys. Freunde, na ja, Tony ist ein Freund von Dean. Sie sagt, sie könnte nicht mehr mit mir reden.«
    »Wer?«
    »Deirdre, Tonys Frau. Ich hab sie angerufen, nachdem die da waren, um es mir zu sagen.« Sie blickte sich zerstreut um.
    Ich gab ihr ein Stichwort: »Und bei dem Barbecue …«
    »Tony hat zu Dean gesagt … Sie haben das Fleisch umgedreht. Ich bin gerade mit dem Bier rausgekommen und da habe ich gehört, wie Tony gesagt hat, Black Tide läuft wieder. Also hab ich Dean auf dem Weg nach Hause gefragt, was denn Black Tide ist. Ein Pferd? Und er hat gesagt, vergiss, dass du das gehört hast. Erwähn das bloß nie mehr gegenüber irgendwem.«
    Sie hob die Hand an ihr Haar, stand auf. »Hab's nicht mehr vergessen. Black Tide. Ich nehm an, ich dürfte Ihnen auch nichts davon sagen. Aber jetzt ist das ja egal, oder? Ich muss los. Die Kinder.«
    Ich stand auf. Zwischen uns bestand eine gewisse Intimität. Sie kam näher. »Er ist alles für mich«, sagte sie. Sie lehnte ihren Kopf gegen meine Brust. Ich legte meine Lippen auf ihr helles, süß duftendes Haar, meine Hände auf ihre Schultern. Zwei Menschen, die sich absolut fremd waren, auf einer einstigen Hügelkuppe.
    »Hören Sie, Meryl«, sagte ich, »ich versuche, etwas über Dean herauszufinden. Unterschreiben Sie nichts, nehmen Sie nichts von dem an, was diese Leute Ihnen anbieten. Ich besorge Ihnen einen Anwalt, der Sie anrufen wird.«
    Sie murmelte: »Sind Anwälte nicht alle Gauner?«
    Ich kreuzte meine Finger. »Das ist ein Mythos.«
    Meryl fasste sich wieder. Sie zog etwas aus der oberen Tasche ihres Blazers und hielt es mir hin. Es war ein Foto von einem Mann mit einem Kind auf den Schultern.
    »Dean«, sagte sie. An der Tür blickte sie sich noch einmal um, hob eine Hand, lächelte schwach. Ich hob eine Faust, kam mir dabei aber sofort dämlich vor. Es war ein Symbol für Stärke, Solidarität und Hoffnung. Was wusste ich schon über Stärke, Solidarität und Hoffnung?
    Ich wartete noch eine Weile, ging zurück nach drinnen, lungerte bei den Aufzügen herum. Als einer kam, ließ ich alle Wartenden freundlich vor und beschloss, die Treppe zu nehmen. Im nächsten Stockwerk nahm ich einen anderen Lift. Als ich in ein Taxi stieg, vor dem Haupteingang, sah ich mich um. Der Einzige, der in meine Richtung blickte, war ein großer Mann in einem grauen Anzug mit Sträflingsfrisur und knochigem Gesicht. Er setzte sich gerade eine dunkle Sonnenbrille auf. Dann fand er sie unbequem und nahm sie

Weitere Kostenlose Bücher