Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman

Titel: Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Temple

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Unbekannter für mich, keine Erinnerung an eine Berührung, meine Mutter, die mich immer auf Distanz hielt, meine erste Frau, die packte und ging, meine zweite Frau, die von einem meiner Klienten ermordet wurde; und nichts von alledem verwischte die Erinnerung an die ruhige Stimme meines Großvaters, eine kratzige Stimme, jedes Wort wie ein Harken im Kies. Ich konnte sehen, wie seine Augen über mein Gesicht wanderten, eine Musterung, eine Suche nach Beweisen für irgendetwas, ein kurzes Innehalten an Haar und Stirn, ein Blick in meine Augen, Musterung meiner Nase, meines Mundes. Wie ich da in meinem Kapitänsstuhl in der Sonne saß, nach all den Jahren, konnte ich immer noch diesen Mund, den Mund meines Großvaters vor mir sehen, einen bösartigen, blutleeren, missbilligenden Mund.
    Und ich konnte ihn hören. Er hatte mich nie Jack genannt.
    Verantwortungslosigkeit. Das kann im Blut liegen, John. Deines Vaters Blut. In dir. Du musst dich immer davor hü ten. Ein Kneipenschläger war dein Vater, ein Arbeiter und ein Kneipenschläger. So ist er gestorben. Als er sich draußen vor einem Hotel geschlagen hat.
    Rosa sagte: »Warum sollte sie sich denn die Schuld geben …?«
    Ich wollte nicht darüber reden. »Keine Ahnung. Ein netter Plausch, so après Weinverkostung, après kurzer Schlaf, Strandspaziergang, Tagebuch lesen, was auch immer. Unglücklicherweise erwischst du mich am Beginn eines Arbeitstages. Ich muss jetzt auf Wiedersehen sagen.«
    Schweigen. »Du kannst es nicht haben, wenn andere glücklich sind, stimmt's, Jack?«, sagte Rosa. »Na ja, das ist ja auch mehr als verständlich.«
    Kälte ergriff mein Herz, und ich sagte leicht dahin: »Ist doch immer wieder schön, wenn die eigenen Schwächen erkannt und vergeben werden.«
    Sie spürte die Kälte, sie strahlte durch die Leitung bis zu ihr.
    »Jack, ich hab das nicht so gemeint. Jack, hör zu, ich wollte …«
    »Ich muss los«, sagte ich. »Hab noch Meilen vor mir. Muss noch ein paar Versprechen halten. Wälder, lieblich dunkel und tief. Akzeptiere keine en primeur Angebote.«
    » En was?«
    »Du bezahlst jetzt und kriegst den Wein später.«
    »Ich weiß nicht, ob Brüder überhaupt den Ärger wert sind«, sagte sie, ein Zittern in der Stimme. »Die scheinen keinerlei Gebrauchswert zu haben.«
    »Außer dem, dir zu sagen, dass sie dich lieben«, sagte ich.
    So etwas hatte ich noch nie zu ihr gesagt. Es war mir nie in den Sinn gekommen, ihr das zu sagen. Ebenso wenig, wie es mir in den Sinn gekommen wäre, einen Kuss zur Begrüßung oder zum Abschied anzubieten.
    Ein langes Schweigen. »Ist das so?«, fragte sie, mit festerer Stimme. »Na ja, vielleicht sind sie dann ja doch für irgendwas gut.«

aub's. Ich musste selbst aufschließen. Nicht ungewöhnlich. Charlie versäumte es häufig, die Tür offen zu lassen.
    Kalt. Das war ungewöhnlich.
    Im Winter, was in Melbourne ja die meiste Zeit des Jahres bedeutete, war stets das Erste, was Charlie morgens tat, den dicken Kanonenofen anzuheizen. Die Werkstatt brauchte immer mindestens eine Stunde, um warm zu werden.
    Kein Charlie. Ich spürte das Pulsen der Angst in meiner Kehle und rief an.
    Es klingelte. Klingelte. Klingelte.
    »Ja, Taub«, sagte er. Es klang wie ein Befehl.
    Ich atmete aus. »So«, sagte ich. »Die Arbeit. Wer braucht schon Arbeit? Wie viele Leben hat man denn schon? Die Arbeit, die Arbeit kann warten. Lieber noch ein bisschen im Bett liegen und darüber nachdenken, wie die Hosenscheißer einem eine Abreibung verpasst haben.«
    Charlie lachte aus vollem Halse, ein Lachen, das dann in Keuchen und Schniefen überging. Man bekam dieses volle Lachen nicht oft zu hören. Das minimalistische Charlie-Lächeln musste meistens reichen, um einem zu sagen, dass man etwas Scharfsinniges gesagt hatte.
    »Traf auf meinen Fuß«, sagte er. »Auf die Zehen. Ich kann nicht gehen. Wie ein Krüppel.«
    »Auf deinen Fuß, was denn?«
    »Was? Was glaubst du denn? Der Ball. Die Kugel.«
    »Oh«, sagte ich. »Tut mir leid, das zu hören. Wusste gar nicht, dass Bowling ein Kontaktsport ist. Dann wurstel ich mich hier alleine durch.«
    Charlie sagte: »Zehn vor elf. Zwei Stunden, bevor du merkst, dass ich nicht da bin?«
    »Ich dachte du wärst irgendwo hinten, ganz leise.«
    Schnauben. »Morgen hole ich die Zeit wieder raus.«
    Ich verabschiedete mich, legte auf. Heute Boss bei Taub's.
    Ich ging zu meinem geleimten Werk von gestern Abend, bewunderte das Ergebnis meiner Mühen, machte mich daran, die Zwingen