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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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sich das alles von selbst auflösen würde. Sie musste etwas tun. Aber was?
    ***
    Bewusstsein kroch ihr ins Hirn, unerbittlich. Sie versuchte, es abzuwehren, noch einmal ins Vergessen hinüberzugleiten, obwohl der reale Alptraum sie bis in den Schlaf verfolgte und sie kaum noch imstande war, beides voneinander zu unterscheiden. Zwecklos. Sie war wach, zögerte noch, die Augen zu öffnen, und hoffte wider besseres Wissen, dass es vorbei sei. Mit aller Konzentration, derer sie fähig war, wünschte sie sich anderswo hin, irgendwo, nur nicht hier zu sein. Sich auflösen, durch Mauern gleiten wie durch Nebel, Geisterstunde, und neu zusammensetzen. Neu beginnen. Eine zweite Chance. Alles anders machen. Aber wo hatte sie gefehlt? Womit hatte sie das hier verdient? Selbst schuld, vermeinte sie zu hören. Schuld, Schuld, höhnisches Echo, nein, dachte sie, diesen Schritt geh nicht. Sie schlug die Lider auf.
    Nichts, natürlich. Wie hätte es auch anders sein können. Sie war nicht stark genug. Nicht im Kopf. Nicht mit den von sinnlosen Schlägen schmerzenden Fäusten. Wenn diese Fäuste nur ein anderes Ziel fänden. Wenn sie nur nicht angewiesen wäre auf diese lächerlichen Fäuste oder die Füße, die nicht einmal in Schuhen steckten. Wenn nur endlich jemand käme. Er. Der Mann, vor dem sie davongelaufen war, das Letzte, woran sie sich erinnerte, bevor sie hier aufgewacht war. War er es, der sie hierhergebracht hatte?
    Sie kannte ihn. Sie wusste seinen Namen nicht, ihr Namensgedächtnis war erbärmlich, aber sie würde ihn beschreiben können, wenn sie hier herauskam. Nein, auch darin war sie miserabel, ihre Chefin hatte noch nie einer ihrer Schilderungen eines Kunden einem Namen zuordnen können. Wiedererkennen würde sie ihn, das schon, das war alles. Er war groß, mindestens einen Kopf größer als sie, wirkte ein wenig übergewichtig, nein, er hatte einen kleinen Bauch, und das musste nicht heißen, dass er schwach war. Er trug zumeist Anzüge, dunkle Anzüge, ein Banker vielleicht, oder ein Anwalt. Sie versuchte, sich an ein von ihm bestelltes Buch zu erinnern, um daraus auf seinen Beruf schließen zu können, aber nicht einmal das klappte. Wie auch immer, sie glaubte nicht, dass er sonderlich fit war. Nur groß. Sie wäre ihm nicht gewachsen. Wenn er je käme.
    Das würde er doch? Er würde sie doch nicht hier vermodern lassen? Nein, das ergab keinen Sinn, dann hätte er ihr doch nichts zu trinken gegeben, eine Scheibe Brot sogar. Ungenießbar allerdings, weil sie das Glas, auf dem sie lag, umgestoßen hatte bei einem neuerlichen Erkundungsgang. Nasses Brot, sie hatte aufgeschrien, als sie es versehentlich angefasst hatte, eklig, und sie wollte sich nicht vorstellen, was noch in dieser Pfütze schwamm. Oder kroch. Sie hatte einen Rest des Wassers retten können und war in der Tasche ihrer Jeans auf einen zerdrückten Schokoriegel gestoßen, den sie sich gezwungen hatte, extrem langsam zu essen und erst danach zu trinken. Dann war sie eingeschlafen.
    Jetzt hatte sie wieder Hunger, nagenden Hunger, warum war ihr das nicht längst aufgefallen? Lag es an der Dunkelheit, dass sie sogar ein Gefühl wie Hunger erst verzögert wahrnahm? Und Kälte. Kalt war ihr auch, und sicher nicht erst seit eben.
    Ob er ihr etwas zu essen hinterlassen hatte? Wo? Ein weiteres Malheur verhindern könnte sie bestenfalls auf Händen und Knien. Sie weigerte sich, ihrer Vernunft zu gehorchen. Würde sie eben noch langsamer vorgehen müssen, unendlich vorsichtiger. Konnte sie sich ja leisten. Zeit, so schien es, hatte sie im Überfluss. Zeit wofür?
    Sie stand auf, tastete sich abermals bis zur Wand vor, versuchte, ihre Schritte zu zählen, und verlor wiederum den Faden. Bruchstücke aller jemals gelesenen Kriminalromane schossen ihr durch den Kopf, zusammenhanglos und bar jeder Logik. Nichts davon passte, sie war nicht vergewaltigt worden, ihre Leiche nicht verscharrt, ihre Familie war nicht reich, es gab kein Lösegeld zu holen, warum war sie hier? Schritt um tastenden Schritt schob sie sich weiter, gemahnte sich wieder und wieder, um Himmels willen langsam zu gehen, vorsichtig, noch vorsichtiger, trotz wachsender Panik, trotz des übermächtigen Wunsches, nur eines zu tun. Zu rennen.
    Halt. Ihr linker Fuß hatte etwas berührt. Sie senkte ihn abermals – etwas Rundes, eine Stange? Ein Rohr? Sie rollte das Ding hin und her, nein, nichts dergleichen, sie hörte nichts, kein metallisches Klappern. Sie ging in die Knie und nahm es in die Hand,

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