Spur nach Ostfriesland
Handschuhe, die sie diesen Winter fast durchgewetzt hatte, zog ihre Stiefel an und ging hinaus, nachdem sie sich bei Frau Borden abgemeldet hatte.
Locker zehn Zentimeter, sie musste ziemlich weggetreten gewesen sein, dass sie das nicht bemerkt hatte. Sie begann bei der Ladentreppe. Wenn der Schnee dort einmal festgetreten war, half nur noch Salz, und ein paar ökologische Prinzipien hatte sie sich denn doch bewahrt, ganz abgesehen davon, dass ihr das Zeug den Teppich im Laden ruinierte. Früher, überlegte sie, war das Verwenden von Salz die mit kritischen Blicken bedachte Ausnahme gewesen. Heute war es genau umgekehrt, es kam sogar vor, dass Kunden sich rein prophylaktisch beschwerten, es sei glatt, konnte ja nicht anders sein, ohne pfundweise Salz. Der Wandel zu dieser Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität hatte sich vollzogen, ohne dass sie ihn mitbekommen hatte.
Sie schwitzte. Der Gehweg war lang und wurde immer länger, im selben Maß, wie ihre Arme schwerer wurden, und das Kratzen des Schneeschiebers dröhnte ihr in den Ohren, während der sonst so penetrante Verkehrslärm von der inzwischen geschlossenen Schneedecke geschluckt wurde. Ein entrüsteter Blick gen Himmel zeigte ihr, dass dies nicht die letzte Runde des Tages sein würde, da lag noch einiges in der Luft. Mehrdeutiger Gedanke, und in jeder Hinsicht durchaus zutreffend.
Sie wünschte, sie wären am Wochenende nicht fort gewesen, dann wäre, was auch immer hier vorgefallen war, nicht passiert. Falls es überhaupt hier seinen Ausgang genommen hatte, sie wusste ja viel zu wenig. Dieser Hartmann war nicht sehr mitteilsam, abgesehen von seinen schlecht verhüllten Verdächtigungen. Die Typen von der Spurensicherung hatten sich auch nicht geäußert, ob sie irgendetwas Verwertbares gefunden hatten, und der Besuch von Zinkel vorhin war restlos kryptisch gewesen. Alle schauten bedeutungsschwer drein, aber niemand rückte mit der Sprache raus. Mit mehr Vehemenz, als ihrer protestierenden Muskulatur zusagte, fügte sie Schaufel um Schaufel Schnee zu der Schicht auf der Straße.
Konnten die sich nicht vorstellen, dass sie sich Sorgen machten? Und beileibe nicht allein um das eigene Wohl, auch wenn das schlimm genug war. War Franziska entführt worden? Gar ermordet? Beides schien einfach nicht vorstellbar. Dennoch geriet selbst Michaels Glauben an jugendlichen Leichtsinn mehr und mehr ins Wanken, auch wenn er den Verdächtigungen gegen sich selbst keine Bedeutung beizumessen schien.
Sie war da viel weniger unbekümmert. Die Suche nach Indizien im Haus, das Lauern auf irgendeine entfernt verdächtige Bemerkung machte sie nervös. Sie war sicher, dass schon jetzt wilde Spekulationen im Umlauf waren. Außerdem half all das keinen Schritt weiter, denn je mehr sich die Polizei darauf versteifte, dass Michael etwas mit Franziskas Verschwinden zu tun hatte, desto geringer die Chancen, sie zu finden. Tot? Lebendig? Und was, wenn sie niemals gefunden würde? Es vielleicht gar nicht wollte, versuchte sie, sich eine harmlosere Variante vorzustellen – die Mär, so es eine war, vom Zigarettenholen.
Allerdings war sie bislang davon ausgegangen, dass nur Männer auf diese Weise verschwanden. Alles hinter sich ließen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Warum eigentlich? Warum sollte eine Frau nicht ebenso das Bedürfnis haben, aus einer schal gewordenen Beziehung oder erdrückenden familiären Verpflichtungen, vor den in sie gesetzten Erwartungen oder dem eigenen unstillbaren Ehrgeiz zu fliehen? Weil Frauen sich im Allgemeinen in Depressionen flüchteten? Vielleicht war Franziska die Ausnahme.
Was, wenn sie niemals gefunden würde? Der Gedanke setzte sich fest, während sie sich ans Räumen der Auffahrt machte. Sie geriet ernsthaft ins Schwitzen, denn hier musste sie den Schnee am Haus vorbei nach oben in den Garten schieben, wo bereits ein meterhoher Berg lag, der auch Plusgrade noch einige Zeit überleben würde. Wenn sie niemals gefunden würde, hinge fortan ein ungeheuerlicher Verdacht über ihnen, würden die Gerüchte, dass Michael möglicherweise etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte, niemals verstummen. Dann konnte sie ihre Zukunftspläne vergessen.
Aber noch ein weiteres Szenario war denkbar, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Gelegentlich kam es auch ohne Mordopfer, ohne Geständnis, allein aufgrund von Indizien zu einem Prozess, der durchaus mit einer Verurteilung enden konnte. Sie durfte nicht länger die Augen verschließen und hoffen, dass
Weitere Kostenlose Bücher