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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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hängen und verfiel in Schweigen.
    »So schlimm?«, fragte er.
    Sie nickte langsam und schnaufte ein paarmal, wie wenn man allen Mut zusammennimmt, um vom Zehnmeterbrett zu springen. »Ich hab ihn wirklich gemocht, wissen Sie? Er hat mir das Gefühl gegeben, dass ich was Besonderes bin. Das ist mir noch nie passiert. Also außer bei Oma jedenfalls. Im Gegenteil. Wie würden Sie sich vorkommen, wenn der eigene Vater Sie nicht mal kennenlernen will? Aber auch sonst wollte eigentlich nie jemand was von mir. Kein Wunder, so wie ich ausgesehen hab. Es war mir aber auch total egal. Bis da. Er hat gesagt, ich kann was aus mir machen, wenn ich mir Mühe geb. Für ihn. Also hab ich mir Mühe gegeben. Und wie.« Sie verstummte abermals.
    »Es gibt einen Fachausdruck dafür, der bedeutet, dass man, wenn man entführt wurde, sich manchmal an den Entführer anpasst und genau das tut, was er will. Das ist keine Schande.«
    »Und gibt es auch einen Fachausdruck, wenn man gar nicht entführt worden ist und trotzdem alles macht, was der andere will?« Sie wandte ihm jetzt den Kopf zu und starrte ihn aus tränennassen Augen wütend an.
    »Oh«, entfuhr es ihm. Mehr fiel ihm im Moment nicht ein.
    »Ja, oh«, äffte sie ihn nach. »Ich bin einfach mit ihm mitgegangen, weil er mir alles Mögliche versprochen hat, und dabei war jedes Wort gelogen. Der hat mich nur … der wollte mich bloß –, da kamen dauernd Männer, und er, er hat gesagt, ich muss beweisen, wie sehr ich ihn mag. Viele Männer«, schluchzte sie.
    Scheiße, dachte Zinkel, solche Schicksale waren es, die ihm den Glauben an das Gute im Menschen nahmen. Na ja, schränkte er ein, den hatte er eigentlich längst verloren. »Hat er Sie –«, das Wörtchen ›wenigstens‹ verkniff er sich, »gewaltsam festgehalten? Dann können wir ihn wegen Freiheitsberaubung auch belangen.«
    »Nein. Er hat damit gedroht, als ich ›zickig‹ geworden bin. Wenn ich mich weiter anstelle, sperrt er mich ein. Da bin ich dann endlich abgehauen. Das Einzige, was ich echt gut gemacht hab, ist, dass er nicht weiß, wo ich wohne. Ich hab ihn nie eingeladen, weil’s mir peinlich war, wie ich lebe. Und meine Oma heißt anders als ich, er kann mich also nicht finden.«
    »Und weil Sie nicht wollten, dass Ihre Oma von all dem erfährt, haben Sie behauptet, entführt worden zu sein?«
    Sie nickte kleinlaut. »Müssen Sie das wirklich melden? Wo ich doch grad anfange, mein Leben auf die Reihe zu kriegen.«
    »Sie haben von meiner Seite nichts zu befürchten«, versprach Zinkel, »aber geben Sie mir trotzdem den Namen von dem Kerl. Ich bin sicher, dass der die Masche weiterverfolgt, und dem möchten wir doch Ärger bereiten, oder? Sie haben natürlich nichts gesagt, das ist schon klar.« Er hielt ihr sein Notizbuch samt Stift hin, und nach kurzem Zögern griff sie zu.
    ***
    »Schön, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«
    Inka nickte. Die Freude war natürlich auf ihrer Seite, die Erleichterung, dass sie nicht eine ganze Woche auf den nächsten Termin hatte warten müssen. Sie wusste nicht, ob sie damit klargekommen wäre. Eher nicht.
    »Ich habe mich krankgemeldet«, erklärte sie. Ein Entschluss, den sie jedoch bereute. Sie vermochte die Zeit nicht auszufüllen, etwas, das ihr nie schwergefallen war und nun unmöglich erschien. Als hätte sie es verlernt.
    »Wie ist es Ihnen ergangen?«
    »Es ging so«, antwortete sie, was nicht den Tatsachen entsprach. Sie konnte nicht mehr lesen. Die Bücher, die sie schon so lange hatte lesen wollen und die in einem Stapel neben der Couch lagen, hatten sie nicht angesprochen, sie war über die ersten drei Seiten nicht hinausgekommen. Das wirkte alles so unecht, so lebensfern. So fern von ihrer eigenen Lebensrealität. Den Grund dafür, dass sie sich nicht darauf einlassen konnte, erkannte sie immerhin.
    »Sie wissen doch, dass mir das als Antwort nicht genügt«, schalt Heide Amelung sie.
    »Ich mag nicht essen.« Gestern in aller Frühe, bevor die Rentnergangs über die Stände herfielen und die Lage unübersichtlich wurde, hatte sie sich, der Vernunft gehorchend, auf den Wochenmarkt auf dem Ernst-Reuter-Platz gestohlen, ein paar Eier, etwas Gemüse und Obst gekauft, beim Bäcker, der neuerdings dort einen Stand mit einem schieren Ungetüm von Holzofen hatte, ein frisch gebackenes Brot erstanden, dessen Duft sie hatte nicht widerstehen können, der sich jedoch, bis sie zu Hause ankam, verflüchtigt hatte. Als sie ihre Einkäufe auf dem Küchentisch

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