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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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betrachtet hatte, waren sie ihr vorgekommen wie ein Stillleben, das bloße Abbild von etwas Lebendigem, nichts, was man wirklich brauchen konnte. Sie hatte alles wieder in die Papiertüten gestopft und liegen lassen. Vielleicht nachher, überlegte sie, vielleicht wäre sie dann in der Verfassung, sich darum zu kümmern. Und natürlich musste sie mal wieder etwas essen. Wenn sie nur das bohrende Gefühl, dass sich das nicht mehr lohnte, endlich ablegen könnte.
    »Warum ist das so?«
    »Es erscheint mir der Mühe nicht wert?«
    »Erzählen Sie mir, was Sie gestern gemacht haben.«
    »Nichts eigentlich. Aus dem Fenster gesehen.« Aus allen Fenstern. Fast den ganzen Tag lang. Bis ihr das Kreuz wehgetan hatte vom Stehen.
    »Was haben Sie beobachtet?«
    »Menschen«, sagte sie, »ganz normale Menschen, die unterwegs waren, um ganz normale Dinge zu tun. Aber ich konnte nicht sicher sein. Deswegen habe ich sie beobachtet.« Nach zehn Minuten die Seite wechselnd, manchmal schneller, wenn sie hatte wissen wollen, wohin sie gingen, ob sie wieder auftauchten aus all den toten Winkeln, den nicht einsehbaren Ecken. Oder ob sie auf ein Klingeln, gar ein Klopfen gefasst sein müsste. Auf ihren Mörder.
    »Etwas Ungewöhnliches ist also nicht vorgefallen?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Dann lassen Sie uns jetzt zurückgehen. Woran erinnern Sie sich als Erstes nach Ihrer Entführung?«
    Inka schloss die Augen, beschwor ein Bild herauf, von dem sie wünschte, es wäre nur das, ein Bild, nicht sie, die dort gestanden hatte. »Ich stand am Straßenrand«, sagte sie, »es war dunkel. Hinter mir Wald, schwarz und dicht. Etwas raschelte, und ich hatte Angst, dass mich gleich ein Hirsch oder ein Wildschwein über den Haufen rennen würde. Es war kalt und roch nach Schnee. Dann kam ein Auto, aber ich habe mich nicht getraut, zu winken, ich hatte zu viel Angst und bin total erstarrt. Als es vorbeigefahren war, bin ich dann losgegangen, in die Gegenrichtung. Irgendwo musste die Straße ja hinführen. Ich wüsste zu gern, wo sie hingeführt hat. Ich bin nicht weit gekommen, glaube ich. Meine Beine waren zu wabbelig. Ich habe mich hingesetzt, auf den Boden, nach einer Weile wurde mir wärmer, und vielleicht bin ich sogar eingeschlafen, ich weiß es nicht so genau. Und dann ist wieder ein Auto gekommen, ich dachte erst, es sei Morgen, aber das Licht kam bloß von den Scheinwerfern. Polizei war das, zwei Polizisten haben mich mitgenommen.« Sie verstummte.
    »Wohin mitgenommen?«
    »Sie haben über mich geredet, als wäre ich überhaupt nicht da. Okay«, schränkte sie ein, »war ich wohl auch nicht so richtig. Der eine glaubte, ich wäre betrunken, der andere tippte auf Drogen, und dann haben sie mich in ein Krankenhaus gebracht, wo ich untersucht worden bin. Aber es war alles in Ordnung mit mir, abgesehen von einer Unterkühlung. Sie haben mich über Nacht dabehalten, und am nächsten Morgen kam eine Polizistin und hat mich abgeholt. Sie sagte, ich wäre acht Wochen lang verschwunden gewesen, was ich dazu sagen könne. Ich konnte nichts dazu sagen, gar nichts.«
    »Das wundert mich nicht, denn dadurch, dass Sie in der gleichen Situation ausgesetzt wurden, aus der heraus Sie auch entführt worden sind, muss Ihnen die fehlende Zeit äußerst irreal vorkommen.«
    »Das hat der Polizeipsychologe, zu dem sie mich gebracht hat, auch gesagt. Das war dann allerdings schon fast alles. Er hat mich an jemanden überwiesen, der mit Traumapatienten Erfahrung hat. Da konnte ich am selben Tag noch hin, aber auf Dauer hätte das natürlich nicht funktioniert, so weit zu fahren. Und ich habe ja geglaubt, ich werde alleine damit fertig.«
    »Ach, Inka, setzen Sie sich nicht so sehr unter Druck. Sie haben eine Erfahrung gemacht, die dermaßen traumatisch ist, dass niemand das einfach so wegstecken könnte. Das ist kein Grund, sich als Versager zu fühlen.«
    »Ich weiß ja, das hat Doktor Lindenau auch gesagt. Er wollte mich anfangs zweimal die Woche sehen, so lange, bis ich stabilisiert genug wäre, um im Alltag klarzukommen. Dann erst könnten wir das eigentliche Trauma angehen, vorher nicht.«
    »Hat er Ihnen etwas verschrieben?«
    »Er hat mir Tabletten gegeben, aber die sind inzwischen alle.«
    »Welche?«
    »Keine Ahnung. Er hat sie einfach in ein Tütchen gesteckt, ich sollte erst probieren, ob ich sie vertrage, bevor er mir ein Rezept dafür gibt. Als ich dann gesagt habe, dass ich nicht wiederkommen würde, hat er sie nicht zurückhaben wollen, also habe ich

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