Spur nach Ostfriesland
konnte mir bloß nicht vorstellen, dass man wegen eines lädierten Beines Depressionen kriegt, nicht meine Mutter jedenfalls. Sie war immer so, ich weiß nicht«, er suchte nach Worten, »irgendwie lebensfroh gewesen, hat immer in allem und jedem nur das Beste gesehen, das passte nicht zusammen. Aber mein Vater hat jeden Einwand vom Tisch gewischt – nicht mit einem Basta, nur damit sie verstehen, wie er tickt, nein, er tat immer sehr verständnisvoll, es ehre mich, dass ich so besorgt sei, aber eben darum würde ich doch sicher nicht wollen, dass sie sich um mich sorge, es gehe ihr nicht gut, und darunter leide sie schon genug. Natürlich habe ich nachgegeben.«
Patrizia nickte. »Emotionale Erpressung. Kann man sich nur schwer entziehen.«
»Hätte ich aber müssen, ich wusste bloß nicht wie, weiß es immer noch nicht. Ich kam mir vor wie Don Quijote mit seinem sinnlosen Kampf gegen Windmühlenflügel. Na ja«, seine Kiefermuskeln zuckten, »ich habe aufgegeben. Fahnenflucht nennt man das wohl.«
»Was genau aufgegeben?«, fragte Patrizia.
»Nicht mal das kann ich benennen«, gab Gentner zu. »Als meine Mutter schließlich nach Hause kam, war alles anders als vor ihrem Unfall. Meine Mutter war anders«, präzisierte er, »sie war irgendwie zu einem blassen Menschen geworden, und ich meine nicht die Hautfarbe, so still, so geistesabwesend und ja, auch desinteressiert. Sie nahm kaum wahr, dass und wie ich mein Abi gemacht habe, Studium? Mach nur. Sie verließ kaum noch das Haus, und sie sprach auch nicht mehr davon, sich mit einem Catering-Unternehmen selbstständig zu machen. Das war das Gravierendste eigentlich, denn das war immer ihr ganz großer Traum gewesen, und sie hätte echt was daraus gemacht, denn kochen kann sie super. Aber alles Zureden half nichts, nur ganz selten blitzte etwas von ihrem früheren Selbst auf, und das hat es eigentlich noch viel schlimmer gemacht. Das konnte ich nicht mehr aushalten.«
»Und worauf führen Sie diese Veränderung zurück?«
»Das ist es ja, ich weiß es einfach nicht. Wenn ich sie nach der Klinik gefragt habe, hat sie ausweichend, wenn überhaupt, geantwortet, sie könne sich nicht daran erinnern. Wenn ich sie fragte, ob es an dem Hund liegt, dass sie das Haus kaum verlässt, sagte sie, nein, es sei doch schön, so ein Tier im Haus zu haben. Den verdammten Köter hat mein Vater angeschleppt, als sie noch fort war, sie selbst hat vorher nie ein Haustier haben wollen, und dann diese bekloppte Kreatur.«
»Ja«, bestätigte Patrizia zerknirscht, »der Hund ist echt umwerfend.«
»Hat er Sie auch erwischt?« Gentner grinste. »Muss was mit Beuteschema zu tun haben, denn seltsamerweise lässt er meine Schwester in Ruhe. Oh, ich mag mir nicht vorstellen, wie das weitergeht, wenn sie auch noch auszieht.«
»Ich dachte, sie sei die Tochter Ihres Vaters?«
»Schon, aber trotzdem ist das noch was anderes, als wenn die beiden ganz allein sind.«
»Wie schätzen Sie denn die Ehe Ihrer Eltern ein?«
»Schwer zu sagen.« Gentner raufte sich die Haare. »Als Kind hat man das nicht hinterfragt, sie waren eben sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, aber an große Auseinandersetzungen kann ich mich eigentlich nicht erinnern. Na ja, das ist auch nicht seine Art, wie ich schon sagte. In dem Jahr vor dem Unfall, da gab es dann ein paar Meinungsverschiedenheiten, vor allem, was die schon ziemlich konkreten Pläne meiner Mutter anbelangte. Das war dann natürlich kein Thema mehr, sie war deutlich gehandicapt durch das Hinken und ist auch ewig lange zur Krankengymnastik gewesen. Zum Psychologen auch, da geht sie, soweit ich weiß, immer noch hin, bringt nur nichts.«
»Wissen Sie, wer das ist?«, erkundigte sich Patrizia, obwohl ihr klar war, dass es schwer bis unmöglich wäre, einen Psychologen dazu zu bewegen, es mit der Schweigepflicht nicht allzu genau zu nehmen.
»Nein, keine Ahnung, aber vielleicht kann ich das rauskriegen, wenn Sie wollen.«
»Ja, das wäre klasse.« Einen Versuch war es allemal wert. »Nimmt sie eigentlich irgendwelche Medikamente?«
»Nicht, dass ich wüsste, höchstens Vitamine. Ich glaube, ich habe mal ein Fläschchen Vitamin B herumstehen sehen.«
Das war nun wirklich nichts, was eine derartige Persönlichkeitsveränderung erklären könnte, überlegte sie, nein, der Schlüssel hierzu lag beim Ehemann. »Wie ist denn Ihr Vater mit den Folgen des Unfalls umgegangen?«
»Er hat Druck gemacht. Nur eine Frage des Trainings, behauptete er, und ob
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