Spur nach Ostfriesland
Mühe, mit seinen langen Schritten mitzuhalten, sodass sie ins Keuchen geriet, ihr Atem, beißend im Hals, wie Rauch entwich.
Sie musterte ihn diskret von der Seite. Zumindest optisch schien er mehr nach seiner Mutter geraten zu sein, das unauffällige Mausbraun seiner zu langen, in der Mitte gescheitelten Haare, das unscheinbare Gesicht, selbst seine Kleidung, Jeans und Parka undefinierbarer Farbe, wirkten langweilig. Er war groß, an die eins achtzig schätzte sie, ein wenig füllig, und der spärliche Bartflaum, den sie anhand der kondensierenden Feuchtigkeit erkennen konnte, ließ ihn eher jünger denn älter wirken. Zu ihrer Zeit hätte er vermutlich strickend im Hörsaal gesessen.
Sie erreichten das Baron, fanden zwei Plätze und schälten sich aus ihren Mänteln. Es roch himmlisch nach Pizza, doch Gentner bestellte nur einen Tee, und so entschied Patrizia sich für heiße Schokolade, hoffend, dass sie den Eisklotz, zu dem sie mutiert war, von innen her auftaute.
»Wohnen Sie noch bei Ihren Eltern?«, eröffnete sie das Gespräch, über dessen Zweck sie am Telefon nichts hatte verlauten lassen.
»Nein«, Gentner spielte mit seinem Teebeutel und sah sie nicht an, »ich bin letztes Jahr ausgezogen.«
»Wie kommt’s? Hotel Mama ist doch eigentlich ganz praktisch, nicht?«
»Das schon, ja.« Er zögerte und warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. »Hotel Papa war eher das Problem.«
Das konnte sie sich lebhaft vorstellen. »Ich habe ihn kurz kennengelernt«, sagte sie, um Neutralität bemüht.
»Ich wette, er hat versucht, Sie zu manipulieren, was?« Er verzog die Mundwinkel zu einem freudlosen Grinsen. »Er kann gar nicht anders.«
»Ich schätze, ja«, gab sie zu und griff sich unwillkürlich an ihre vernarbte Wange. »Er hat mich ziemlich verunsichert.«
»Ermitteln Sie gegen ihn?« Er setzte sich aufrecht, als könne er es kaum erwarten.
»Nicht direkt. Trotzdem müssen Sie meine Fragen nicht beantworten, wenn Sie das nicht wollen«, erklärte sie pflichtgemäß und entschied sich, mit offenen Karten zu spielen. »Eine junge Frau aus der Buchhandlung Martens in Niedernhausen ist verschwunden, und es gibt eine Zeugenaussage, dass Ihr Vater sie in den Urlaub eingeladen hatte. Wir haben ihn dazu befragt, und er hat sich seltsam verhalten, fast, als wollte er sich verdächtig machen, bis er schließlich doch ein Alibi angegeben hat. Wir stochern also eigentlich nur ein wenig im Nebel, aber wie gesagt, Sie brauchen nichts zu sagen, was ihn belasten könnte.«
»Ich wünschte fast, ich könnte etwas sagen, das ihn belastet«, entgegnete Gentner. »Aber letztlich bin ich nie gegen ihn angekommen, keiner von uns, und ich fürchte, auch Ihnen wird das nicht gelingen.«
Das werden wir ja sehen, dachte Patrizia. »Ich interessiere mich für den Unfall Ihrer Mutter«, sagte sie laut.
»Ich mich auch.« Gentner trank einen Schluck Tee, stellte bedächtig die Tasse ab und lehnte sich zurück, die Augen halb geschlossen, bevor er zu erzählen begann.
»Meine Schwester und ich sind aus der Schule gekommen, und mein Vater sagte, unsere Mutter sei die Kellertreppe runtergefallen, nichts Ernstes, behauptete er, aber sie war im Krankenhaus, ein komplizierter Bruch. Nach ein paar Tagen durften wir sie besuchen, sie war schon operiert worden und noch sehr schwach, groggy irgendwie, aber wir sollten uns keine Sorgen machen, sie käme schon wieder auf die Beine. Danach haben wir sie acht Wochen lang nicht mehr gesehen. Immer gab es Ausreden, wenn ich sie besuchen wollte, eine Nachoperation, zu schwach, zu müde, was auch immer, Telefon wollte sie angeblich auch nicht haben, und dann sollte sie zur Reha. Ich weiß nicht mal, wo das war, können Sie das glauben? Sie sei psychisch labil, sagte mein Vater, sie hinkte und könnte das nicht verkraften, darum sei sie in einer Klinik, wo man ihre Depression gleich mitbehandeln würde. Wir durften sie nicht besuchen, nicht mal er selbst, angeblich. Wir würden ihr nur das Gefühl geben, dass sie uns im Stich gelassen hätte, das würde sie zu sehr aufregen und den Heilungsprozess verzögern.«
»Und damit haben Sie sich abgefunden?«, warf Patrizia ein.
»Was blieb mir anderes übrig? Mein älterer Bruder war schon ausgezogen. Ich weiß nicht, was er von dem Ganzen überhaupt mitbekommen hat, wir haben selten Kontakt. Und meine Schwester – na ja, sie ist Papas Tochter, sein Wort ist heilig. Die Begründung für diese Kontaktsperre klang ja auch durchaus glaubhaft, ich
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