Spurlos in der Nacht
bist in Schweden. Aber nein. Du bist nicht weit von zu Hause. Das ist ja gerade so jämmerlich.»
Sie hasste diese helle Stimme, und die Verkleidung löste in ihr Übelkeit aus. Einmal hatte sie gebissen und gekratzt und war einfach hysterisch geworden. Aber danach war sie gefesselt worden, für viele Tage. Das wollte sie nicht noch einmal über sich ergehen lassen.
Sie lag noch immer unten auf der Matratze.
«Ist noch immer Sommer?», fragte sie.
«Ja.»
«Warum darf ich nicht nach draußen? Du kannst mich doch fesseln, aber ich brauche ein bisschen Licht, ein bisschen Luft.»
«Nein.»
«Ich laufe nicht weg. Das verspreche ich dir.» Sie sah die Waffe an, die aus der braunen Tasche herauslugte.
«Nein, habe ich gesagt. Du bist nur eine kleine, verängstigte Prinzessin. Ich will nicht, dass du weißt, wo du bist.»
«Kann ich nicht mein Handy zurückhaben, dann kann ich ein Spiel spielen. Du hast doch ohnehin gesagt, dass ich hier in einem Funkloch sitze.»
«Nein. Dein Handy hat eine kleine Reise gemacht.»
Langsam setzte Kathrine sich auf und lehnte den Rücken an die kühle Mauer. Sie durfte nicht aufspringen, durfte sich nicht provozierend verhalten. Dann würde sie bestraft werden. Die Glühbirne könnte herausgedreht werden. Oder sie bekäme nichts zu essen. Sie musste brav da sitzen und die Arme herunterhängen lassen. Ganz gelassen bleiben.
Einige Tage zuvor hatte sie Fieber gehabt. Und dabei war alles anders geworden. Die Luft war grauer, das Essen weißer geworden. Sie begriff nicht, warum sie nicht einfach sterben konnte. Deshalb war sie doch sicher hier eingesperrt.
Sie schüttete Apfelsinensaft in sich hinein. Vitamin C, dachte sie. Sonne. Ihre Hände zitterten, sie hatte Angst, der Karton könne ihr weggenommen werden. Die Folienpackung mit der kalten Mahlzeit wurde ihr gereicht. Frikadellen, wurde mitgeteilt.
«Igitt, kalte Frikadellen», sagte sie, was ihr ein erbarmungsloses Lächeln einbrachte. «Das ist hier unten wie in einem Aquarium», sagte sie dann mit vollem Mund. «Davon habe ich heute Nacht geträumt. Denn ich bin doch unten, oder? Unten in der Erde?»
«Spürst du das?»
«Ja.»
«Es stimmt aber nicht.»
Das nun folgende Lachen ärgerte sie. Sie wusste, dass diese Behauptung wahr und ebenso gut unwahr sein konnte. Sie schluckte das kalte Erbsenpüree hinunter.
«Ich habe saubere Waschlappen und ein Handtuch mitgebracht.»
Kathrine betrachtete die hellblauen Stoffstücke. Verkniff sich eine weitere Bitte um frische Luft. Das Versprechen, nichts zu verraten, den ganzen Unsinn, der nichts brachte. «Danke», sagte sie müde.
«Bitte nicht diese Leidensmiene.»
«Tut mir Leid.» Sie schloss die Augen. Dachte an die Namen der Blumen draußen. «Gibt es noch Blumen, oder sind die schon verwelkt?»
«Es gibt noch Blumen.»
«Welche denn?»
«Allerlei.»
Sie dachte an die fünf Zwiebeln, die sie mit ihrer Oma gepflanzt hatte, die Blumen hätten zu ihrer Konfirmation blühen sollen. Sie wusste, dass die fünf gelben Spitzen längst herangewachsen und verwelkt waren.
«Kannst du diesen Schimmelkram da aus der Ecke wegnehmen?», fragte sie.
«Was denn?»
«Den Käse.»
Die Schuhe schlugen auf den Steinboden auf. «Warum hast du den nicht gegessen?»
«Weil er verschimmelt ist.» Sie hob die Stimme. «Ich esse keinen verschimmelten Käse.»
«Bitte nicht diesen Tonfall.»
Und später, als die Tür sorgfältig verschlossen worden und sie wieder allein war, hörte sie in Gedanken wieder diesen Lärm. Das Dröhnen der schweren Eisentür, die ins Schloss fiel. Den leichten Lufthauch, der in den Raum strömte, ehe sich die Tür schloss. Und danach das metallische Echo der Schritte, die draußen verschwanden.
51
Schon anfang August konnte man ahnen, dass die Schatten dunkler wurden. Die Tage waren spürbar kürzer geworden. Und die Sonne, die sich immer noch alle Mühe gab, um zu strahlen, verlor immer mehr von ihrer Wärme.
Vetle war überglücklich gewesen, als sein Vater anrief und von der wunderbaren Heimkehr des Katers berichten konnte. Es stellte sich heraus, dass Marmelade bei einer alten Dame Zuflucht gefunden hatte. Sie hatte ihn in ihrem Garten entdeckt, blutend und entkräftet. Sie war mit ihm zum Tierarzt gegangen, der die Wunde mit mehreren Stichen genäht hatte. Danach hatte sie dem Tier in ihrem Badezimmer ein Lager gebaut, und nach einigen Tagen war es wieder zu Kräften gekommen. Und Katzen lassen sich eben dort nieder, wo es ihnen gerade
Weitere Kostenlose Bücher