Spurlos in der Nacht
fragte nach Personen, die sich verdächtig verhielten. Und nach Menschen, die sie nicht leiden mochte. Nach all den Jahren bei der Polizei wusste er, wie man alte Damen zum Reden bringt.
«Ach ja, ich kann den Postboten nicht ausstehen», sagte die alte Frau Adamsen aufgeregt.
Cato Isaksen unterdrückte ein Lächeln.
«Der trödelt immer so. Wir bekommen die Post nie vor elf. Früher, als Landsem das noch machte, er hatte die Runde dreißig Jahre, war er um neun Uhr hier. Immer um Punkt neun.»
Nach drei Plätzchen, einigen Tassen Kaffee und allerlei Aussagen über allerlei Nachbarinnen, wagte Cato Isaksen die Frage, ob sie an dem Abend, an dem Brenda Elise Moen erschossen worden war, etwas Besonderes gesehen habe.
Die alte Dame erhob sich und holte sich einen Schal, sie schien zu frieren. «Eigentlich habe ich ja vielleicht nichts gesehen», sagte sie, als sie zurückkam. «Das habe ich auch diesem Polizisten gesagt. Der war so schroff. Aber vielleicht habe ich ja doch etwas gesehen.»
Cato Isaksen wartete gespannt.
«Ich bin ja auch nicht neugierig», sagte sie jetzt. «Das will ich mir nun wirklich nicht nachsagen lassen.»
«Der Baum hatte doch keine Blätter», sagte Cato Isaksen. «Und da hätte doch wirklich alle Welt etwas sehen können.»
Sie wehrte ab. «Ich habe nichts Wichtiges gesehen. Und Privatangelegenheiten gehen niemanden etwas an.»
«Es wäre wirklich sehr schön, wenn Sie uns helfen könnten.» Cato Isaksen spürte, wie seine Geduld zu Ende ging.
«Ich habe nichts von Bedeutung gesehen.»
«Aber Sie haben etwas gesehen?»
«Sicher, etwas schon. Aber starren, das liegt mir nicht. Das tu ich einfach nicht. Meine Leber will nicht mehr so recht und deshalb muss ich jede Nacht mehrmals aufstehen. Das ist der Grund.»
Cato Isaksen wartete. Er erhob sich und ging wieder ans Fenster. Der Vorgarten von Nr. 51 war durch die Hecke vor der Straße geschützt.
«Die haben sich gestritten», sagte sie plötzlich. «Moen hat sich mit seiner Mutter gestritten.»
Der Ermittler drehte sich zu der alten Dame um. Hinter ihm ließ ein kurzer Lichtfunke die Fensterscheibe aufleuchten. Jemand öffnete gegenüber ein Fenster. Frau Adamsen schaute deshalb auf. «Sonst haben sie sich nie gestritten, wissen Sie.» Sie schüttelte kurz den Kopf. «Aber an diesem Abend ging es hoch her, das kann ich Ihnen sagen. Er riss Gegenstände herunter. Sie schrie ihn daraufhin an. Ja, nicht, dass ich etwas gehört hätte. Natürlich habe ich nichts gehört. Aber so etwas sieht man.»
Cato Isaksen nickte vorsichtig.
«Ja, seine Freundin habe ich nicht gesehen, aber sie kam ja meistens auch erst später.»
«Seine Freundin?» Cato Isaksen blickte sie fragend an.
«Ja, Sie wissen doch sicher, dass er eine Freundin hat.»
«Nein, das wissen wir nicht.»
«Ich weiß natürlich nicht, ob sie verlobt sind.»
Cato Isaksen spürte, wie seine Brust sich vor Spannung zusammenkrampfte. Er ließ sich wieder in den Sessel sinken.
«Sie kommt zu den seltsamsten Zeiten. Ist ziemlich kräftig, trägt vernünftige Schuhe. Immer vernünftige Schuhe. Und immer hat sie die Handtasche über dem Arm hängen. Eigentlich habe ich den Eindruck, dass seine Mutter nichts davon wissen sollte. Denn warum hätte die Dame sonst mitten in der Nacht kommen sollen?»
Jetzt wurde die Sache wirklich interessant. «Sie kommt und geht also mitten in der Nacht?»
«Ja. Ist das nicht seltsam? Das liegt alles nur daran, dass ich so schlecht schlafe, und wenn ich dann ohnehin aufgestanden bin, um ein Glas Milch zu trinken, ist der Weg zum Fenster kurz, um das mal so zu sagen.»
«Selbstverständlich», sagte Cato Isaksen entgegenkommend. «Wir sind ja nur froh darüber, wenn jemand soviel Aufmerksamkeit zeigt.»
«Meinen Sie?» Frau Adamsen wirkte jetzt richtig glücklich. Sie lächelte so strahlend, dass ihre vielen Runzeln noch viel deutlicher wurden. «An diesem Abend blies ein schrecklicher Wind, wissen Sie. Das weiß ich noch sehr gut.»
Cato Isaksen musterte sie, und ihm ging auf, dass diese Frau ihnen wirklich weiterhelfen konnte. Er verfluchte Roger Høibakk. Vielleicht war dieser Patzer daran schuld, dass sie bisher noch nicht weitergekommen waren. Er würde im Büro sofort die Protokolle durchgehen. Feststellen, wer die Verantwortung dafür trug, dass diese Zeugin nicht längst sorgfältig vernommen worden war.
Die alte Frau Adamsen sah ihn an und sagte dann: «Ich war gegen zehn Uhr schlafen gegangen, aber dann bin ich
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