Spurlos in der Nacht
gelesen?»
Helena Bjerke resignierte. «Du bist krank», sagte sie leise.
«Hast du sie gelesen?»
«Nein.»
«Sie sagt, dass die Frau jahrhundertelang für den Mann als Vergrößerungsglas fungiert hat. Hast du dir das schon mal überlegt? Dass die Frau den Mann doppelt so groß wiedergeben soll wie er ist?»
Helena Bjerke wandte sich angeekelt ab. Ihr Bruder hob die Pistole. Er umklammerte die Waffe. Die Finger mit den großen Diamantringen wurden weiß.
Helena kniff die Augen zusammen, als könne sie auf diese Weise die verrückte Stimme aussperren. Sie wollte diesen Irrsinn nicht hören, der zwischen seinen dicken Lippen hervorquoll. Diese Lippen sahen hier im Zwielicht blutrot aus. Das übermäßig geschminkte, hasserfüllte Gesicht war dicht vor ihrem. Helena Bjerke schauderte es.
«Du hast die Karte in Arjäng aufgegeben», sagte sie müde. «Du hast den anonymen Brief aus Rakkestad geschrieben und die SMS geschickt.»
Er fuchtelte nervös mit der Pistole hin und her. «Das musste ich doch. Dieser Polizist wurde zu aufdringlich. Er hat geglaubt, ich wüsste nicht, dass er mich verfolgte. Ich musste ihn ablenken. Deshalb bin ich so oft zum Sognsvann hochgefahren und dort spazierengegangen. Ich habe gerochen, dass er mir folgte. Am Ende war es fast wie ein Spiel. Er wird verlieren. Er hat das Spiel nicht begriffen.»
«Du hast nachts vor meinem Schlafzimmerfenster gestanden.»
«Du hattest erzählt, dass ihr in getrennten Zimmern schlaft. Ich musste dir einfach einen kleinen Schrecken einjagen. Es sollte eben etwas passieren.»
Helena dachte wieder an Kathrine, aber diese Vorstellung war so schrecklich, dass sie sie verdrängte. Wenn sie es doch nur gewagt hätte, sich zu erinnern! Dann wäre sie jetzt vielleicht nicht hier, wo sie in ihrer Vergangenheit begraben würde wie in dunkler Erde. Die Erinnerungen aus ihrer Kindheit schienen verschwunden zu sein, so, wie wir einen Stein ins Wasser werfen und wissen können, dass er auf den Boden sinkt.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, die tiefe Einsamkeit ihres Bruders voll zu erfassen. Was war denn bloß schief gegangen? Sie starrte in dieses Gesicht, das in Verbitterung und Härte erstarrt zu sein schien, keine Anzeichen von Trauer, kein Hinweis auf Reue. Die kalten Augen zeigten nur Entschlossenheit, der breite Mund mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln zeugte von Vorwürfen.
Helena räusperte sich. «In der Nacht, in der Kathrine verschwunden ist, habe ich dich angerufen. Am nächsten Tag hast du behauptet, du hättest geschlafen und das Telefon nicht gehört.»
«Ich war im Wald unterwegs und mit Kathrine beschäftigt. An dem Abend, an dem sie verschwunden ist, hat sie mich angerufen und noch mehr Geld verlangt. Sie hatte eine Hose gesehen, die sie einfach haben musste, wie sie sagte. Und deshalb haben wir uns dann an der Bushaltestelle bei der Mautstation verabredet.»
«Aber warum?»
«Warum nicht? Das ist doch eine ganz einsame Stelle. Wir sind nicht durch den Tunnel gefahren, sondern zur Stadt zurück, auf der üblichen Straße. Ich hatte einen Lappen mit einem Betäubungsmittel, und den habe ich ihr über Mund und Nase gehalten. Aber stell dir vor, diese Drecksgöre hat es doch wirklich noch geschafft, mich vorher mit der Krücke auf die Stirn zu schlagen!» Er leckte sich die Lippen, als sei der rote Lippenstift eine Delikatesse. Seine Schwester nahm diese Mitteilungen mit einer eiskalten Ruhe auf, die ihr bisher völlig unbekannt gewesen war. Wenn sie jetzt nachgab, würde alles in wenigen Sekunden zu Ende sein.
«Ich werde hier noch den Verstand verlieren», sagte er mit seiner hellen Stimme. Dann lächelte er.
«Du brauchst deine Stimme nicht zu verstellen. Ich weiß auch so, wer du bist.»
«Ich spreche mit der Stimme, die mir passt.»
Sie musterte ihn einen Moment lang schweigend. Am Ende wandte er sich ab. Und sie fragte ruhig, wie alles angefangen habe, ob ein bestimmtes Erlebnis entscheidend gewesen sei.
Er zeigte anklagend auf sie. «Ihr habt nie irgendetwas begriffen», sagte er. «Ihr alle nicht.»
Sie merkte plötzlich, wie nah sie ihm war, wie leicht es ihr jetzt im Nachhinein fiel, alles zu erkennen. Sie rutschte ein wenig nach rechts und zog ein kleines spitzes Blatt von einem Zweig. Er reagierte nicht auf diese Bewegung. Nur flüchtig versuchte sie sich vorzustellen, was geschehen würde. Sie durfte sich von der Angst nicht überwältigen lassen. Sie durfte nicht an ihrer Gewissheit über seinen Wahnsinn
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