Spurlos in der Nacht
hatte nicht geantwortet, aber er hatte den Abscheu in ihrem Gesicht gesehen.
Alle hatten Brenda Elise Moen für die Güte selbst gehalten, aber sie hatte auch eine Teufelin sein können. Er konnte ihrem Blick ansehen, was sie dachte. Du siehst in diesem Sack von Kleid wie eine Schlampe aus. Die Striche in deinem Gesicht sind einfach lächerlich. Er wusste, dass diese Gedanken durch ihren Kopf hallten, auch wenn sie sie nicht laut aussprach.
Und diese Miene konnte er an ihr nicht ertragen. Als sie lautlos die Treppe hochging, wusste er, dass etwas für immer zerstört war. Die Mutter hatte sich Kathrine anvertraut, und die hatte angefangen, Geld von ihm zu verlangen. Kathrine hatte ihn nicht nur einige Male zu erpressen versucht, sie hatte ihn einige Male außerdem viel sagend angelächelt. Am Ende hatte er das nicht mehr ertragen können.
Zwei Wochen nach Kathrines Verschwinden schien seine Mutter zu einem Schluss gekommen zu sein, sie schien zwei und zwei zusammengezählt zu haben. Er konnte sich an diesen Moment genau erinnern. Er fror. Die Mutter stand vor ihm und sah ihn an. Es war der 7. März, es war Nachmittag.
Er versuchte, ihr alles wieder auszureden. Gab vor, nicht zu verstehen, was sie meinte. Am Ende ließ sie sich auf eine Treppenstufe sinken und brach in Tränen aus. Und sie wollte die Polizei verständigen, sagte sie.
Das durfte nicht sein. Er drängte sich an ihr vorbei, stürzte in ihre Wohnung, zog ihr Telefon aus der Wand und nahm es mit. Dann ging er mit festen Schritten zur Tür, versuchte ihr Weinen nicht zu hören. Er drehte sich um, ging zurück und trat auf sie ein, bis sie auf dem Boden lag, sie sollte begreifen, dass es ihm ernst war. Danach fegte er die Bilder von der Kommode.
Die Mutter hörte plötzlich auf zu weinen. Sie schlug die Hände vors Gesicht, wie um sich vor Schlägen zu schützen. Er schlug sie nicht. Er hatte seinen Entschluss schon gefasst und wollte an ihr keinerlei Spuren hinterlassen.
Er ging in den Keller und zog einen grauen Rock und eine Bluse an. Auf diese Weise würde niemand ihn erkennen. Außerdem nahm er sich einen Mantel und ein paar solide Laufschuhe. Danach ging er in seine eigene Wohnung hoch, holte sich die Pistole, setzte sich auf die oberste Treppenstufe und wartete. Er wusste, dass sie herauskommen würde, wenn es bei ihm still geworden wäre.
Seltsamerweise wurde er ganz ruhig, als er hörte, dass sie sich hinausschlich. Nichts würde jetzt wieder in Ordnung kommen. Er hatte so lange wie möglich gewartet, aber nun hatte sie die Sache selber entschieden.
Er ging die Treppen hinunter und aus dem Haus. Er schloss die Tür nicht ab. Er stieg die Steintreppe hinunter und ging über den Kiesweg. Er sah sie ein Stück vor sich.
Alles im Garten war braun und tot. Bald würde das Braun grün werden, das Obst würde an den Bäumen reifen. Für einen Moment sah er die Mutter auf den Knien liegen und sich um die Pflanzen kümmern. Aber das würde sie nie wieder tun.
73
«Es wäre klüger von dir, dich nicht mit mir anzulegen, Helena.» Alf Boris Moen sprach jetzt wieder mit seiner Männerstimme.
«Halt die Klappe, du Blödmann», sagte Helena darauf. Sie stand halbwegs hinter einem immergrünen Busch verborgen. Er staunte. So hatte sie ihn noch nie genannt. Nie hatte sie sich ihm gegenüber einen solchen Ton erlaubt. Für einen Moment war er wie erschlagen.
Dieses neue Verhalten gefiel ihm gar nicht. «Vielleicht begreifst du ja nicht, was es bedeutet, eine Frau zu sein», sagte er ironisch. «Immer läufst du schlampig herum, schminkst dich nicht.»
«Red nicht mit dieser idiotischen hellen Stimme», sagte sie. «Du bist ein Versager, verrückt und böse. Ich hasse dich.»
Ihre gefühlsmäßige Reaktion kam so unerwartet und plötzlich und war so intensiv, sie schien ihrem wirklichen Ich so gar nicht zu entsprechen. Die letzten Monate waren eine Übergangsperiode gewesen. Eine Kluft zwischen dem alten und dem neuen Leben. Die viele Angst hatte sie in gewisser Weise stark gemacht.
«Hüte deine Zunge», rief er. «Kathrine und ich haben viel über Kleider gesprochen. Deshalb habe ich sie am Leben gelassen. Ich brauchte eine, die mich sehen, für die ich mich schön machen konnte. Ich habe doch auch einen Anspruch darauf, gesehen zu werden», jammerte er. «Nie hat mich bisher jemand gesehen.»
«Du bist ein Scheiß-Faschist!»
«Wie kannst du dir überhaupt einbilden, etwas von mir und meinem Wesen zu verstehen? Hast du Virginia Woolf
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