Spurlos in der Nacht
rühren. Sie musste so tun, als sei alles wie bisher, als seien sie Bruder und Schwester.
Er wandte sich halbwegs ab. Zog den Mantel besser um sich zusammen.
«Willst du wissen, was damals mit Gunn Berit passiert ist?»
Helena starrte ihn sprachlos an. Wieder fiel jetzt der Nieselregen auf die Blätter. Der Waldboden war von verfaulten gelben und grünen Gewächsen bedeckt. Die Wimperntusche lief über seine Wangen. Sie zeichneten sich als kleine schwarze Streifen in den Fältchen unter seinen Augen ab. Sie konnte nicht mehr. Würde das hier denn nie ein Ende nehmen? Ihr Herz hämmerte wütend in ihrer Brust.
Sie stellte keine weiteren Fragen. Ihre Haare waren triefnass. Sie klebten kalt wie ein feuchter Vogelflügel an ihrer Kopfhaut.
«Sie wollte mich verlassen.» Er zuckte mit den Schultern. «Das hast du dir vielleicht nicht überlegt, nämlich, dass ich allein bleibe. Dass ich am Ende einsam sein werde, wenn alles vorüber ist. Wenn alle fort sind.»
Plötzlich hörte sie sich schreien. Und sofort machte er sich über sie her. Er zwang ihre Arme auf den Rücken und sagte, sie solle den Mund halten. «Wie konntest du Kathrine das antun? Sie hat sich doch auf dich verlassen», weinte sie. «Wie konntest du nur?»
«Kathrine ist ein widerliches Gör», sagte er. «Sie und ich haben große Ähnlichkeit miteinander.»
74
Der Wächter hatte genug. Wütend starrte er den Ermittler an, dann zog er sein Telefon hervor und wählte eine Nummer.
«Das lasse ich mir jetzt nicht mehr länger bieten», sagte er. «Dafür kann ich die Verantwortung nicht übernehmen.» Cato Isaksen, der noch immer auf dem Boden hockte und die letzten Unterlagen durchsah, fuhr hoch. Er spürte, wie seine Wut sich mit der Angst vor dem Zuspätkommen vermischte. Er wusste, dass es eine Frage von Zeit war. Vielleicht sogar von sehr kurzer Zeit. Dieser Wahnwitz war viel zu weit gegangen. Er konnte natürlich losfahren und die Gegend aufs Geratewohl absuchen, aber der Wald hatte hundert Richtungen und er wusste ja nicht einmal, wonach er suchte. Er riss sich zusammen und wirkte plötzlich ganz ruhig. «Bitte», bat er, «bitte, lassen Sie mich nur noch die letzte Schublade durchsehen, dann gehe ich.»
Der Wächter schaltete sein Telefon aus und nickte kurz. «Aber danach müssen Sie alles wieder einräumen», sagte er. Cato Isaksen nickte, fiel auf die Knie und durchblätterte in wütendem Tempo die letzten Papiere. Plötzlich, als er enttäuscht die ganze Suche schon ergebnislos abbrechen wollte, tauchte ganz unten eine Landkarte auf. Sie war zusammengefaltet. Cato Isaksen riss sie an sich und richtete sich auf. Der Wächter kam auf ihn zu. Cato Isaksen breitete die Karte auf dem Schreibtisch auseinander. Eine Zeichnung segelte zu Boden. Er bückte sich eilig und hob sie hoch. Ein Blick genügte, um ihm zu sagen, dass es sich hier um die Beschreibung eines Bunkers handelte. Er ragte nur haarscharf über dem Boden auf. Die Zeichnung des Inneren zeigte, dass er einen langen Gang, mehrere Kammern und einen großen Raum mit einer Eisentür enthielt. «Vestmarka», stand in kleinen Buchstaben ganz unten. Cato Isaksen glaubte, die Antwort in Händen zu halten. Der Wächter riss ihn aus seinen Gedanken. «Haben Sie das Gesuchte gefunden?», fragte er.
«Ich glaube schon», sagte Cato Isaksen und starrte weiter die Zeichnung an.
«Sie können aus diesem Büro leider keine Dokumente entfernen», sagte der Wächter energisch.
Cato Isaksen versuchte, Ruhe zu bewahren. Er könnte die Karte vielleicht abzeichnen, aber das würde zu lange dauern. «Ich brauche nur diese beiden Blätter», sagte er. «Die Karte und die Zeichnung. Die können doch nicht so wichtig sein.»
Der Wächter musterte die Karte. «Ich muss zuerst grünes Licht einholen», sagte er ein wenig freundlicher. «Aber ich fürchte, das kann einen Moment dauern.»
Cato Isaksen nickte. Das war einfach zu schrecklich, jetzt, so kurz vor dem Ziel. Der Wächter verschwand. Wütend schlug Cato Isaksen mit der Faust so hart auf den Schreibtisch, dass es wehtat. Gleichzeitig hörte er die Schritte, die sich draußen entfernten.
Er drehte sich um und schaute zum Fenster hinüber. Zögerte höchstens zwei Sekunden, dann lief er hin und riss es auf. Er schaute auf die Pflasterstraße unter sich. Der erste Stock war recht niedrig gelegen, aber es war doch noch hoch genug.
Er stopfte Karte und Zeichnung in den Hosenbund und stieg auf die Fensterbank. Dann drehte er sich um und
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