Spurlos in der Nacht
steigerte seine Angst und seine Übelkeit noch. Ein leichter Wind wehte herein und ließ feuchte Herbstblätter rascheln, die vor ihm auf dem Steinboden lagen.
Plötzlich hörte er Alf Boris Moens Stimme. Die kam gleich hinter der anderen Stimme. Wieviel Zeit ihm wohl noch blieb? Es konnte sich nur um Sekunden handeln. Cato Isaksen merkte, wie das Entsetzen sich in seinem Körper ausbreitete. Was war das nur für ein verdammter Unsinn, dass die Polizei nicht bewaffnet sein durfte!
Plötzlich hörte er ein Mädchen schreien. Ein eiskalter Schauder jagte über seinen Rücken. Dann verstummte die Stimme und ein heftiger Knall zerriss die Stille. Die Steinmauern vervielfachten den Lärm noch. Schmerzhaft schlug der gegen sein Trommelfell. Automatisch hob er die Hände, um seine Ohren zu schützen. Er hatte die Tür erreicht. «Hier ist die Polizei!», rief er mit lauter ängstlicher Stimme.
79
Bleich und hohläugig kniete Kathrine auf dem Boden, die Krücke hatte sie über den Kopf gehoben. Neben ihr lag die Pistole. Cato Isaksen wusste, dass er ihren Anblick nie vergessen würde, und auch nicht das irrwitzige blutige Theater, das sich in dem grauen Steinraum abgespielt hatte. Sie sah ihn an und schien ihn doch nicht zu sehen. Versuchte aufzustehen und sank dann wieder in sich zusammen. Irgendwo in der Ferne dröhnte der Donner.
Cato Isaksen konnte den Blick nicht von ihr wenden. Aber am Ende riss er sich doch los und musterte Alf Boris Moen, der auf dem Rücken vor ihm lag. Alf Boris Moen sah hilflos zu dem Ermittler hoch und streckte ihm die große Hand mit den Diamantringen hin. Aus seiner Kehle kam ein leises, jammerndes Keuchen. «Sie hat auf mich geschossen», flüsterte er verwundert.
Seine rechte Gesichtshälfte war ganz und gar mit Blut verschmiert. Das Blut war überall, in seinen Haaren, in seinem offenen Mund, in den Augen. Aber er atmete, lebte noch.
Cato Isaksen schaute die ausgestreckte Hand an. Dann ging er zu Kathrine hinüber und nahm ihr die Krücke aus der Hand. Er legte sie leise auf den Boden, reichte Kathrine die Hand und zog sie auf die Füße.
Kathrine schaute den Fremden erstaunt an. Er legte den Arm um ihre schmalen Schultern. Sie klammerte sich an ihn und er spürte, dass sie nur noch aus Haut und Knochen bestand. Dann führte Cato Isaksen Kathrine langsam aus dem Raum, während Alf Boris Moens Jammern leiser und leiser wurde.
Auf dem Gang bat er sie, sich für einen Moment an die Wand zu lehnen. Dann drehte er sich um und schob die schwere Tür ins Schloss.
Helena Bjerke lag zitternd hinter der Mauer. Das Geräusch des Schusses hatte sie gelähmt. Jetzt ruhte ihre Wange an der Wand. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Ihre Mundhöhle war wie ausgetrocknet. Sie nahm den Eisengeruch des Bodens war. Das war das Einzige, was ihr hier vertraut war, der Eisengeruch des Bodens. In einigen kleinen Steinen sah sie plötzlich ein chaotisches Muster aus kleinen Zeichen. Mit einer großen Kraftanstrengung legte sie die Hände gegen die grobe Mauer und versuchte sich aufzurichten.
Sie versuchte auf die Beine zu kommen und hielt sich am Drahtzaun fest, während sie wartete. Sie schloss die Augen und merkte nicht mehr, dass sie fror, obwohl sie wusste, dass alles zu Ende war.
Plötzlich zerriss eine dünne Stimme die Luft. Helena Bjerke riss die Augen auf. Sie glaubte zu träumen. Das Bild von Kathrine in der Türöffnung, zusammen mit dem Polizisten, das konnte doch nicht echt sein? Sie kniff die Augen zusammen, dann riss sie sie wieder auf. Es war Kathrine. Sie nahm die heißen Freudenstöße wahr, die durch sie hindurchjagten. Sie konnte ihre Eindrücke nicht mehr auseinanderhalten. Alles in ihr war nur noch Chaos.
Kathrine sah ungefähr so aus, wie sie sie sich vorgestellt hatte. Sie war dünn, aber sie hatte doch nicht erwartet, dass ihre Haare so verfilzt und verkommen sein würden, so lang und ungepflegt. Sie nahm ihre ängstlichen Augen und die bleiche Haut wahr, und dann das viele Blut an Kleidern und Händen.
Immer dann, wenn die Mutter über sie in den Zeitungen gelesen oder ihre Bilder im Fernsehen gesehen hatte, hatte sie gedacht: so sieht sie jetzt nicht mehr aus. Sie wusste, dass die Umstände ihre Tochter verändert haben würden, wenn sie noch am Leben war. Sie hatte sie für tot gehalten. Aber im tiefsten Herzen hatte sie die ganze Zeit doch gehofft. Eine Mutter gibt ihr Kind eben niemals auf.
Kathrine betrachtete das graue Regenwasser in den Pfützen. «Es ist
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