Spurlos in der Nacht
schauten aneinander vorbei.
«Sie war doch ein Einzelkind», sagte Helena Bjerke empört. «Sie war daran gewöhnt ihren Willen durchzusetzen.»
«War sie verwöhnt?»
«Ich weiß nicht. Wir haben uns oft gestritten. Über Kleider, darüber, wann sie zu Hause sein musste. Was sie durfte, mit wem sie zusammen war. Sie konnte schreckliche Wutanfalle bekommen.» Helena Bjerke wandte sich ab. «Sie fehlt mir so schrecklich. Ich würde so gern soviel anders machen.»
Cato Isaksen lag im Bett, auf dem Bauch, die Hände an der Seiten, und lauschte dem Regen, der auf die Steinplatten in Garten fiel. Er gönnte sich ein Mittagsschläfchen, was er normalerweise niemals tat.
Der Duft des frisch gemähten Grases schwebte ins Zimmer und gab der Luft eine Schärfe, die die Erinnerung aufreizte. Feuchtes Gras. Er und Ellen hatten sich einmal im Wald getroffen. Er erinnerte sich an den Geruch des feuchten Waldbodens und an Ellens gierigen Mund. Daran dachte er eine Weile. Danach dachte er an Kathrine Bjerke. Die Schriftanalyse hatte ergeben, dass die Postkarte wirklich von ihr geschrieben worden war. Aber wo steckte Kathrine? Hatte sie sich vielleicht irgendwo verborgen? Er sah ihr Gesicht vor sich, so wie er es auf den Fotos gesehen hatte. Sie hatte wirklich Ähnlichkeit mit Maiken Stenberg. Er würde Maiken irgendwann einmal danach fragen. Ob die beiden Mädchen über diese Ähnlichkeit gesprochen hatten?
Er musste außerdem Kenneth Hansens ältesten Bruder aufsuchen, Stein Ove. Er wollte feststellen, wann der das nächste Mal auf Urlaub kommen würde. Er hätte schon längst mit ihm sprechen müssen, aber immer war etwas dazwischen gekommen. Außerdem hatten die Kollegen in Folio und die Kripo ihn bereits mehrmals vernommen, aber das hatte auch nichts gebracht. Trotzdem konnte es wichtig sein, sich ein eigenes Bild von ihm zu machen. Aber zuerst würde er versuchen, mit Tage Wolter über das zu sprechen, was Helena Bjerke erzählt hatte.
Am folgenden Tag fuhr er direkt zum Einkaufszentrum. Der Stiefvater war diesmal nicht so abweisend. Er wusste vermutlich, was von ihm erwartet wurde. Sie setzten sich in das kleine Cafe gegenüber. Tage Wolter holte für beide am Tresen Kaffee. Er sah müde aus. Ist ja vielleicht auch kein Wunder, dachte Cato Isaksen. So viele Indizien sprachen gegen ihn. In der Abteilung hatten sie versucht, alle Informationen zusammenzutragen, die ihn in ein ungünstiges Licht rückten. Sie waren alle ungeduldig. Es fehlte nicht mehr viel, dann würden sie genug für eine Anklage zusammen haben.
«Helena sagt, dass Sie am Abend von Kathrines Verschwinden doch nicht die ganze Zeit zu Hause waren», sagte Cato Isaksen als Erstes.
«Ja», seufzte Tage Wolter. «So ist das. Ich war kurz unten beim Boot.»
«Sind Sie gefahren oder gegangen?»
«Gefahren.»
«Warum haben Sie das nicht gesagt?»
«Das gibt ja doch nur eine Masse Ärger», sagte Tage Wolter müde.
Cato Isaksen musterte ihn gelassen.
«Was haben Sie da unten gemacht?», fragte er dann. «Warum sind Sie hingefahren?»
«Warum? Das mach ich oft so. Ich war höchstens eine halbe Stunde unterwegs. Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung war.»
«Hat das Boot dabei die ganze Zeit im Hafen gelegen oder haben Sie einen kleinen Ausflug gemacht?»
«Nein, zum Teufel. Wie hätte ich das denn schaffen sollen?» Er rutschte unruhig hin und her. Er sah wütend aus. «Ich begreife nicht, wie Helena das tun konnte», murmelte er.
«Was denn?»
«Mir so einen Streich spielen.»
«Das kann doch nicht von Bedeutung sein, so lange Sie nichts mit Kathrines Verschwinden zu tun haben. Es ist verboten, die Polizei zu belügen, und ich muss schon sagen, das diese Information uns als sehr wichtig erscheint.»
«Na gut», sagte Tage Wolter. «Aber sie ist doch nicht verschwunden. Sie scheint ja freiwillig abgehauen zu sein.»
«Dieser Eindruck kann vielleicht entstehen», sagte Cato Isaksen. «Aber wir sind doch der Ansicht, dass wir nicht einfach davon ausgehen können. Irgendwer kann sie dazugezwungen haben, diese Karte zu schreiben. Außerdem sind nach unseren Vermisstenmeldungen in den schwedische: Medien keine Tipps oder Hinweise eingetroffen.»
Tage Wolter war blass geworden. Er machte sich an seine Kaffeetasse zu schaffen und starrte die Tischplatte an.
«Helena hat gesagt, Sie seien an dem Abend, als Kathrin verschwunden ist, um elf Uhr abends wieder zu Hause gewesen. Das war kurz, nachdem Maiken sich von ihr verabschiedet und Lars
Weitere Kostenlose Bücher