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Spurlos

Spurlos

Titel: Spurlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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eigenen stand.
    „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“
    Seine Augen, die nichts sahen, aber in ihre Richtung gerichtet waren, verunsicherten sie. Tamara bemerkte, dass er sich nur auf die Kante des Stuhls setzte und sich nicht anlehnte, sein Rücken blieb kerzengerade. Er hätte auch ein Tänzer sein können, dachte sie, oder ein Guru … Seine langen, schlanken Hände ruhten auf den Oberschenkeln, und seine Augen blickten starr in ihre Richtung.
    „Mister Hellman …“
    „Sagen Sie bitte Jake.“
    „Okay, Jake …“
    „Wie alt sind Sie, Detective ? Nur so eine Frage“, unterbrach er sie.
    Einen Moment lang überlegte sie, ob sie die Antwort verweigern sollte, doch dann sagte sie sich, dass jeder Sehende ihr Alter geschätzt und sich ein Bild von ihr gemacht hätte. Jake Hellman hatte ein Anrecht darauf, sich ein Bild von ihr zu machen.
    „Ich bin sechsunddreißig.“
    „Sechsunddreißig …“ Ein wehmütiges Lächeln flog über sein Gesicht. „Sechsunddreißig – ich bin dreiundfünfzig.“ Er lachte ein wenig. „Sechsunddreißig …“ wiederholte er leise. Sein Blick war weiter ungerührt.
    Sie nahm sich vor, keine weiteren Auskünfte über ihre Person zu geben , egal ob er blind ist oder nicht, dachte sie.
    „Jake, ich habe Ihnen am Telefon gesagt, dass wir den Fall McNulty noch einmal aufrollen.“
    „Das nutzt McNulty nichts mehr.“
    Sie reagierte nicht auf seine Bemerkung, in der ein Unterton mitklang.
    „Erz ählen Sie mir von Richard McNulty. Sie haben ihn betreut.“
    Hellmans leerer Blick berührte sie unangenehm .
    „Ja, bis er nach anderthalb Jahren starb.“
    „Er hat sich umgebracht, mit einem Socken erstickt.“
    „Ja. Ich habe ihn gefunden.“ Er drehte den Kopf zu ihr , als könne er sie sehen. „Schreiben Sie sich nichts auf?“
    „Nein. Ich merke es mir.“
    „Das ist gut. Das trainiert das Hirn. Als meine Augen zunehmend schlechter wurden, hab’ ich mir auch alles gemerkt, um nachher nicht hilflos dazustehen.“
    „Wann sind Sie erblindet?“
    „Oh, das fing schleichend vor etwa fünf Jahren an. Seit einem Jahr sehe ich gar nichts mehr. Manchmal einen Schatten vielleicht.“ Er lächelte sanft, als habe er sich mit seinem Schicksal angefreundet.
    „ Das tut mir leid“, glaubte sie, sagen zu müssen.
    „Das muss es nicht. Jeder hat sein Kreuz zu tragen, Tamara.“
    Er nannte sie Tamara. Sie mochte das nicht – sie mochte auch die Art nicht, wie er seinen leeren Blickin ihre Richtung lenkte. Unwillkürlich rückte sie mit dem Stuhl ein Stück nach hinten.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
    „Ja“, versicherte sie rasch. „Wie war McNulty?“
    Er lächelte wieder, als hätte er den Grund für ihren raschen Themenwechsel durchschaut.
    „Ein sympathischer Mensch war er ganz bestimmt nicht. Niemand mochte ihn besonders. Das war in seinem Leben schon immer so gewesen. Er hat seine Eltern früh verloren. Fühlte sich nirgends richtig zugehörig.“
    Sie hatte die Fotos von McNulty gesehen. Die eng stehenden Augen, die flache Stirn, die geduckte Körperhaltung – all das drückte Verschlagenheit und Unaufrichtigkeit aus.
    „Er hatte wohl nie Freunde“, Hellman faltete die Hände auf dem Schoß. „Er hat immer gesagt, Gott hat es so gewollt.“
    Tamara hatte die Akten studiert und erinnerte sich an die Aussage.
    „Irgendwann hat er angefangen, von seiner Rettung zu sprechen. Gott rettet mich, hat er gesagt.“
    „Haben Sie an seiner Schuld gezweifelt, Mister Hellman?“
    „Ich habe Ihnen doch angeboten, dass Sie mich Jake nennen. Gefällt Ihnen mein Name nicht?“ Hellmans Mund verzog sich zu einem Lächeln, ohne dass er die Lippen öffnete.
    Sie war sich nicht sicher, ob Hellman weise oder hochmütig war.
    Sie antwortete nicht. Sie war der Cop. Sie leitete die Befragung. Das hatte sie jahrelang gelernt und trainiert.
    „Und, haben Sie ihn für unschuldig gehalten?“
    Er zögerte. „Nein, das nicht, aber wir dürfen nicht vergessen, dass er Aborigine-Blut in seinen Adern hatte! Sie kennen kein Nein, jedenfalls nicht unser Nein. Und ich bin sicher, man hat ihn so unter Druck gesetzt, dass er alles zugegeben hätte. Er hatte nur mit Weißen zu tun: weiße Polizisten, weiße Anwälte, ein weißer Staatsanwalt, ein weißer Richter, weiße Geschworene. Die Kleider des Opfers und die Mordwaffe lagen in seinem Kofferraum – na, ich möchte mal wissen, was Sie da an seiner Stelle noch hätten entgegnen könnten.“
    „Behaupten Sie gerade, dass er zu einem

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