Spurlos
langsamer, noch eine Biegung nach links, zwei nach rechts und dann rollte sie auf den Innenhof des Apartmenthauses. Inzwischen war die Sonne fast untergegangen. Graue Schatten hatten sich über die Häuser und Bäume geworfen, ein Hund bellte in einer Wohnung. Sie stieg aus.
„Hi!“
Sie d rehte sich nach der Stimme um. Überrascht sah sie ihn an. Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Sorry. Ich glaube, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.“ Er hielt die Autotür auf.
Einen Moment zögerte sie, dann ging sie auf ihn zu.
9
Das Haus mit der Wohnung von Valerie Tate lag dunkel hinter den dichten Gummibäumen. Wenn Shane es nicht besser gewusst hätte, würde er glauben, hier wohnte niemand. Gegenüber leuchtete wie letztes Mal das Neonlicht Holiday Apartments. Er schloss die Haustür auf. Es war still. Die Bewohner schienen überall lieber zu sein als in ihren Wohnungen. Diesmal roch es im Treppenhaus noch nicht einmal nach Essen. Dafür glaubte er einen leichten Geruch nach Putzmittel wahrzunehmen. Er stieg in den ersten Stock hoch und schloss die Tür auf.
Das Licht reflektierte von den weißen Wänden und blendete ihn kurz. Er erinnerte sich an den schwachen Parfümduft, der ihm beim ersten Besuch aufgefallen war. Wohnungen von verstorbenen Menschen hatten immer dieselbe Ausstrahlung: In ihnen lebte noch das fort, was der Tod nicht hatte zerstören können - die Vorliebe für bestimmte Farben, der Sinn oder auch der fehlende Sinn für Schönheit oder Dekorationen, eine bestimmte Ordnung, ein Musikgeschmack und in den Schränken hingen die Kleider, die einst ausgewählt oder geschenkt worden waren …
Er stand vor dem Bücherregal. Valerie Tate interessierte sich für Krimis. Ein paar amerikanische Bestseller-Autoren kannte er. Er betrachtete sich die Titel genauer. Valerie Tate liebte Gerichtskrimis. Im unteren Fach fielen ihm Bücher auf, die sich mit dem Schreiben selbst beschäftigten. Kreatives Schreiben las er auf einem der Buchrücken, Krimis schreiben , Wie schreibe ich einen Roman …
Valerie Tate gab sich also nicht mit dem Lesen zufrieden. Er ging in die Knie und fand zwischen den Titeln ein schmales, schwarzes Buch. Er zog es heraus, blätterte es durch. Handgeschriebene Seiten. Um ein Tagebuch schien es sich nicht zu handeln, eher um Valerie Tates Schreibversuche ...
Er legte das Buch auf den Schreibtisch, er würde es nachher mitnehmen. Er zog die beiden Schubladen auf, die die Leute von der Spurensicherung bereits durchgesehen hatten. Sie hatten nach Kalendern, Notizbüchern und Fotos gesucht. Den Rest hatten sie da gelassen. Es war sowieso nicht viel drin gewesen, hieß es. Valerie Tate hatte keine voll gestopfte Schubladen. Ein Stapel Karteikarten, Briefmarken, selbstklebende Aufkleber, eine Schachtel mit Büroklammern. In der zweiten Schublade fand er auf einem Block ein zusammengefaltetes Papier. Er nahm es heraus. Eine Anmeldebestätigung zum Schreib-Workshop wärhend des Writer’s Festivals. Am Sonntag bei Brett Horkay. Brett Horkay? Diesen Namen hatte er doch eben gelesen? Er bückte sich wieder vor das Regal und zog ein Taschenbuch heraus. Brett Horkay: Die Spur des Dornenteufels. Er legte es zu Valeries Buch und ging ins Schlafzimmer.
Im Kleiderschrank betrachtete er ihre Kleider, griff in die Taschen, in der Hoffnung, noch irgendetwas zu finden, was sie weiterbrin gen konnte. Manchmal waren ihm alte Fahrkarten, Taschentücher mit DNA-Spuren, Parkscheine, Kinotickets in die Hände gefallen und hatten geholfen, einen Fall aufzuklären. Doch heute hatte er kein Glück. Die Taschen waren leer. Valerie Tate war auch in dieser Hinsicht ordentlich. Er nahm die Bücher, sah sich an der Tür noch einmal um und ging hinaus.
Manche Menschen gingen spurlos durchs Leben, um dann in einem furiosen Tod zu enden. In seinem Beruf lernte er viele Menschen erst durch ihren Tod kennen – eine seltsame Art, Bekanntschaften zu machen. Er entwickelte zu den Toten eine Beziehung. Und manchmal berührten ihn diese Beziehungen mehr als ihm lieb war. Als sie noch lebte, war Valerie Tate ihm unsympathisch gewesen. Doch seit sie tot war, durchsuchte er ihren Kleiderschrank, berührte ihre Wäsche, setzte sich auf ihren Platz auf der Couch, las ihre Bücher. Die Toten hatten kein Anrecht mehr auf Intimität – das war die andere Erkenntnis, die er in seinen Berufsjahren gewonnen hatte. Die jahrelang gehüteten Geheimnisse, die Absonderlichkeiten, Ängste, Leidenschaften – all das gehörte den
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