Spurschaden
Marie!«
Erschrocken schmiegte sich Marie mit dem Rücken an die kalte Wand. Die Beine angewinkelt und mit Händen und Armen gegen die Brust drückend, saß sie auf dem Bett. Sie hatte sofort erkannt, wer da zu sprechen schien. Eine besondere Gnade wäre es ganz sicher, aber konnte sie sich sicher sein, durfte sie das wirklich annehmen, dass es wirklich seine Worte waren und keine Einbildung?
Marie schaute auf die unmittelbar gegenüberliegende Wand. Ihre Augen gewöhnten sich an die frühmorgendliche Dunkelheit und erkannten nur zu gut die bekannte Silhouette des Gekreuzigten.
»Du zweifelst?«, hörte sie ihn fragen.
Marie hielt den Atem an.
»Schau mich doch an … und glaube!«
Für einige Sekunden verharrte Marie in ihrer Position. Keine Angst, nur Entschlossenheit. Ein Griff zur Nachttischlampe, ein kurzzeitig blendend helles Licht. Dann blickte sie auf das Kreuz und bekam wenig später die Gewissheit.
»Ja, Herr, ich glaube!« Ihre Gesichtszüge entspannten sich, und der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ja, Marie glaubte, dass sich Gott ihr auf eine ganz besondere Art und Weise offenbart hatte. Erstaunlich ruhig erhob sie sich vom Bett, schaltete die Deckenlampe an und kniete in der gewohnten Position, nur wenige Schritte vor dem Kreuz. Zweifel waren ausgeschlossen. Marie musste schmunzeln. So oft hatte sie das Holzkreuz gerade gerichtet, so regelmäßig hatte es sich spätestens über Nacht wieder in die Schräglage begeben. Doch heute war es anders. Heute hing es nicht schief – heute hing es perfekt gerade. Beweis genug? Für Marie schon.
Ein in unregelmäßigen Abständen auftretendes Geräusch hatte sie schon länger wahrgenommen, doch erst als sie das mittlerweile laute Klopfen an der Tür und eine bekannte Stimme erkannte, schreckte sie aus ihrer knienden Haltung auf.
»Einen Moment bitte!«, bat sie mit schläfriger Stimme, schritt zur Tür und öffnete diese für einen kleinen Spalt.
»Guten Morgen, Schwester Marie.« Pater Johann lächelte sie leicht verlegen an. »Den Arzttermin haben Sie wohl vergessen … oder?«
»Guten Morgen, Pater. Nein! Natürlich nicht! Aber es war doch ausgemacht, dass ich zur Morgenandacht nicht komme. Pünktlich um 7:30 Uhr stehe ich an Ihrem Auto, versprochen!«
»Nun, Schwester.« Die Gesichtszüge des Paters wurden ernster. »Ohne eine Zeitmaschine wird Ihnen das heute aber nicht mehr gelingen!«
Marie verharrte lange in einer dümmlich fragenden Mimik, als sie plötzlich auf die Idee kam, sich umzudrehen und auf die Wanduhr zu schauen. Es war zehn vor Acht.
Erschrocken wandte sie sich wieder zur Tür. »Ich war doch um 5:30 Uhr aufgestanden. Ich … Entschuldigung!« Doch bevor Marie sich weiter erläutern konnte, fuhr ihr der Pater überraschend beruhigend ins Wort:
»Ich kläre das mit Professor Arndt. Wir haben damals gemeinsam die Schulbank gedrückt und die Pausenbrote geteilt. Das geht schon, keine Sorge. Mein Termin folgt ja an Ihren. Notfalls bekommen Sie den dann.« Der Pater schaute auf seine Uhr. »8:30 Uhr. Wollen wir 8:30 Uhr sagen? Sie wollen ja sicher noch duschen.«
»Ja!«, erwiderte Marie ohne Zögern. »Um 8.30 Uhr bin ich unten im Hof.« Sie hörte sich deutlich schlucken. »Es tut mir wirklich leid!«
»Hauptsache, der alte Kurpfuscher findet nichts bei uns«, hallte es in einem für sie überraschend gut gelaunten Tonfall im Flur nach. Und dann war der Pater auch schon nicht mehr da.
Marie zog sachte die Tür zu. Was folgte, waren Schmerzen. Als hätte jemand eben mit einem Holzbrett gegen ihre Knie geschlagen, genau so kam es ihr vor. Die wenigen Meter zur Dusche, sie wurden zur Qual. Sie wollte sich fallen lassen, irgendwie. Egal welches Körperteil den Boden zuerst berühren würde, ob Ellenbogen oder Kopf, nur nicht die Knie – jede andere Stelle wäre ihr recht gewesen in diesem Moment. Und Marie wankte. Doch sie fiel nicht.
17
Schhhhhhhhhhrrrr.
Der Achtzylinder-Motor des mehr als 20 Jahre alten 286 PS starken BMW 740i war nahezu geräuschlos. Einzig die Lüftung gab ein leises Rauschen von sich, sorgte für eine angenehme Innentemperatur. Marie spürte, wie sich die schwere Luxuslimousine aus dem Nachlass eines dem Kloster wohlgesonnenen Spenders den Weg durch den Schnee bahnte, diesen regelrecht zermalmte. Pater Johann umklammerte fest das Steuer. Sie fühlte sich sicher. Seine anfängliche Aussage, dass er beim Autofahren sehr ungern reden würde und dafür um Verständnis bat, war ihr nicht unrecht. So konnte er
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