Spurschaden
schnellen Durchblättern Folgendes mit Gewissheit sagen: neuwertig, aber nicht unbenutzt; jemand musste darin gelesen haben. Marie nahm einen leicht maskulinen Geruch wahr, der ihr bekannt vorkam. Es roch jedenfalls nach einem Mann; nur nach einem Mann. Eine Frau war mit dem Inhalt des Briefumschlags in letzter Zeit nicht unmittelbar in Kontakt gekommen – das wäre ihr sofort aufgefallen. Und doch war da noch ein anderer Geruch. Einer, den sie nicht unmittelbar zuordnen konnte, der sie aber am ganzen Körper frösteln ließ. Ein Geruch, der von etwas Medizinischem fast vollständig überlagert wurde.
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Sollte das wirklich möglich sein, Gedankenübertragung, Telepathie? »Ja, Gott kann mit uns auf geistiger Ebene in Verbindung treten! Aber Menschen untereinander? Glaub ich nicht!«, entfuhr es ihm. Die altgriechischen Wörter »tele« und »pathos« standen für »fern« und »Leiden«. Wörter, die allerdings erstaunlich gut zur aktuellen Situation – die Zwillinge betreffend – passten, das musste er zugeben.
Pater Johann hörte nichts außer sein Atemgeräusch, während er den Artikel auf Seite 12 zum gefühlten 20. Mal durchlas. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er die einzelnen Wörter mittlerweile wie in einem Rausch wahrnahm. Eine sinnvolle Weiterverarbeitung zu einem logischen Ganzen musste schon länger nicht mehr stattfinden. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen zu einer nichtssagenden Masse. Der Pater erwischte sich erneut dabei, wie er sich mitten im Text dazu zwang, konzentrierter zu lesen – und zwar wieder von vorne. Was dieser Artikel mit den verschwundenen Zwillingen zu tun haben sollte, verstand er nicht. Diese eine Aussage jedenfalls, dass Zwillinge eine besondere Verbindung zueinander haben, brachte ihn gedanklich nicht weiter. Der Kommissar und die Novizin verfolgten eine falsche Spur, da war er sich sicher. All das hatte mit der Prophezeiung nichts zu tun.
Für wenige Augenblicke festigte sich seine Konzentration, dann stieg er endgültig aus dem Text aus. Die Fotokopie glitt aus seinen Händen, sein Kopf senkte sich zum kräftigen Brustkorb hin. Halb im Schlaf fragte er sich, ob es mehr als ein Zufall gewesen war, dass er beim Prüfen der Post den falschen Umschlag geöffnet hatte. Eine Verletzung des Briefgeheimnisses lag nicht in seiner Absicht; das lag es nie. Allerdings hatte er sich geschworen, Vorsorge zu treffen:
Kurz nach der Erstbeziehung des Internats hatte es angefangen. Dass eines der Kinder darin verwickelt war, wollte der Pater nicht ausschließen. Jedenfalls musste jemand die Vor- und Nachnamen sämtlicher Klosterschwestern an einen Sex-Artikel-Versand weitergegeben haben, wobei die Empfänger-Adresse ja immer die gleiche blieb. Das Hauptproblem bestand nun darin, dass die Abbildungen des Kleinkatalogs durchweg harte Pornographie zeigten. Hardcore-DVDs mit eindeutigen Szenen, neben Dildos und künstlichen Vaginas. In kleinen Vorschaubildern konnte man jedes schmutzige Detail erkennen: Mit Männerschwänzen in allen nur denkbaren Körperöffnungen einer Frau fing es an. Wo es endete, wollte er nicht wissen; ein weiteres Vorblättern im Katalog verbot er sich.
All das wäre für das gerade hier für diese Kinder speziell ausgewählte Personal kein wirkliches Problem gewesen, allerdings betraf das nicht die Klosterschwestern älteren Jahrgangs. Pater Johann bezweifelte stark, dass eine dieser Schwestern je solche eindeutigen Abbildungen zu Gesicht bekommen hatte, auch nicht über das Internet. Für den Onlineraum hatte er bisher nur der jungen Novizin einen Zugang eingerichtet. Vor dieser Form der harten Pornographie musste er die Schwestern unbedingt schützen.
Dass die gesamte Post zunächst auf seinem Schreibtisch landete, war der erste Segen; der zweite, dass Schwester Hildegard schon länger zum Pflegefall geworden war und er deshalb den an sie gerichteten Umschlag ohne Absender geöffnet hatte. Anfangs dachte er noch an einen schlechten Scherz. Als dann aber im Abstand von wenigen Tagen die gleichen Umschläge an weitere Schwestern eintrafen, begann er, ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Post erwünscht war und welche es vor der Weitergabe zu prüfen galt. Da für die Schwestern sowieso nicht gerade viel Post ankam, war es für ihn ein Leichtes, das Teufelszeug auszusortieren. Kein einziges Mal hatte er sich bisher getäuscht. Die Trefferquote, den Sex-Katalog betreffend, betrug 100 Prozent – bis auf gestern, bis auf den ähnlich großen Umschlag
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