Spurschaden
an Schwester Marie. Aufgrund der Boulevard-Zeitschrift hatte er den Fehler nicht gleich erkannt und die wenigen Zeilen auf den beiden gelben Zetteln waren in Sekunden überflogen. Da es danach eh zu spät war, dachte er sich, könne er den besagten Artikel auch lesen. Pater Johann machte daraufhin eine Kopie und gab sich danach sehr viel Mühe, den Inhalt wieder in einen ähnlichen Briefumschlag zu legen – jegliche Fingerabdrücke hatte er zuvor entfernt. Mit seinem anpassbaren Stempel druckte er die Ziel- und Absenderadresse neu auf, einschließlich eines Hinweiscodes, dass das Porto bezahlt sei. Somit gab es für den Empfänger keinen Grund, an der Echtheit und Unversehrtheit des zugestellten Umschlags zu zweifeln. Ja, Pater Johann war in solchen Dingen aufgrund seiner früheren Ausbildung ein Profi, und weil er wusste, dass er es konnte, tat er es. Außerdem wäre es ihm viel zu peinlich gewesen, dieses versehentliche Öffnen eines fremden Briefes zuzugeben.
Dass dieser Spuk mit dem Sex-Katalog spätestens nach der Zustellung an die letzte Schwester hier im Kloster enden würde, war die große Hoffnung des Paters. Noch war die Menge überschaubar, noch konnte er den schmutzigen Inhalt im offenen Kamin verbrennen. Wie die Vernichtung eventueller größerer Mengen des Materials dann im Sommer ohne die Flammen erfolgen sollte, daran hatte er allerdings auch schon gedacht: eine neue Aktenvernichter-Maschine. Die bisherige schnitt das Papier nämlich nur in dünne Streifen – bei genauem Hinsehen konnte man weiterhin Eindeutiges erkennen. Und dann waren da noch diese Gleitgel-Proben. Wohin sollte er dann diese Beilagen unauffällig verschwinden lassen? Bisher hatte er sie immer gleich mitverbrannt – trotz der träge langsam schmelzenden Plastikhülle roch der danach kurzzeitig aufkochende Inhalt ironischerweise gar nicht mal so schlecht. An ein Schreiben an die Bestell-Postfachadresse mit der Aufforderung, das Kloster generell aus dem Verteiler zu nehmen, hatte er längst gedacht, allerdings wollte er damit noch warten. Vielleicht stellte sich das Problem bald von allein ein; ohne sein direktes Zutun.
Noch mehrere Male schreckte der Pater auf, dann erhob er sich schwerfällig, zog die Kutte mit einem Schwung über den großen Kopf und ließ sich auf sein nur wenige Schritte entferntes Bett fallen. Es folgte ein ähnlich unruhiger Schlaf wie der von Marie: Der Sechzigjährige träumte von Kirchen, die sich in aller Welt aufgrund zukünftiger Ereignisse wieder füllen würden – die Zwanzigjährige von den wirren Erläuterungen eines Doktors zum Thema Gedankenübertragung und von einem breitschultrigen Mann.
16
5:30 Uhr. Das Lied »Painkiller« von Judas Priest riss sie aus dem Schlaf. Kraftvoll erklang es aus den zwei überdurchschnittlich großen Lautsprechern ihres Handys, das sie seit geraumer Zeit hauptsächlich als Wecker nutzte. Das Modell: ein E90 Communicator. Neben dem kleinen Display auf der Außenseite bot es – nach dem Aufklappen – innen ein hochauflösendes großes Panorama-Format. Die vollwertige QWERTZ-Tastatur machte das Eingeben von Internetadressen und Schreiben von E-Mails zum reinsten Kinderspiel. Damals gehörte dieses Modell zu den teuersten und bestausgerüsteten seiner Art – damals hatte Marie es oft genutzt. Hier im Kloster betrieb sie es hauptsächlich im sogenannten Flugmodus, bei dem jegliche ein- und ausgehenden Verbindungen deaktiviert waren. Ein Grund war der Elektrosmog, den sie weitestgehend vermeiden wollte – die mächtigen Antennen auf dem Klosterturm strahlten schon mehr als genug. Der andere Grund war, dass es kein vernünftiges Argument gab, ständig erreichbar zu sein – die drei oder vier Menschen, die ihre Handynummer kannten, gehörten nicht zu den Personen, von denen sie einen Anruf erwartete. Und so wechselte sie nur kurz in den Onlinemodus, um ihre abonnierten Newsletter abzurufen: das Neueste aus den Bereichen Theologie, Allgemeinwissen und Astronomie. Ja, Marie fühlte sich den Sternen eng verbunden. Und damit meinte sie nicht irgendwelche Horoskop-Meldungen. Alles, was jedoch mit der Entdeckung neuer Himmelskörper und bemannter Weltraummissionen zu tun hatte, faszinierte sie. Da draußen war es kalt und ruhig; ganz nach ihrem Geschmack.
Sie überflog die News, und während sie das tat, nahm sie eine klare männliche Stimme in ihrem Kopf wahr. Viel deutlicher als gestern in der Kapelle und erstaunlich real.
»Du musst heute stark sein,
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