Spurschaden
nicht mehr aus dem Sinn, und die schlechte Angewohnheit, das, was seine Mutter ihm mit Eiswürfeln und viel Aufwand in seiner frühen Kindheit hatte austreiben können, trat wieder unverblümt in Erscheinung: seine Zungenspitze. Gut zwei Zentimeter ragte sie aus dem ansonsten geschlossenen Mund zwischen den Lippen hervor, verkehrte die an sich markant jugendlichen Gesichtszüge in die eines Kindes.
23
Gefangen in der Endlosschleife hielt die Nadel ihre Spur. Das in regelmäßigen Abständen typisch dumpf klingende Knackgeräusch forderte zum Wenden der Platte auf. Doch Thomas Schlund dachte seit vielen Minuten an alles, nur nicht an das schwarze Stück drehenden Vinyls. Seine Noch-Lebensgefährtin hatte er damals mit der gewaltigen Plattensammlung tief beeindrucken können: Die erste innige Umarmung, der erste nasse Kuss – das hatte hier stattgefunden, auf diesem Bett und mit genau dieser Schallplatte. Jetzt lag Thomas wieder da, auf seiner Seite des Bettes und war allein.
In den letzten vier Wochen hatte er sich mit seiner Mutter am Krankenbett seines Vaters abgewechselt. Sie hatten Wache gehalten, ihm unendlich viel vorgelesen, mit ihm geredet, ihn an allen nur erdenklichen Stellen seines Körpers gedrückt, gekitzelt und berührt – aus dem Koma war er dennoch nicht erwacht. Die Ärzte machten Andeutungen, zeigten sich optimistisch, aber auf einen Zeitpunkt wollten sie sich nicht festlegen.
Vor knapp einer Stunde dann hatte Thomas seine Mutter abgesetzt. Sie musste wieder hinaus aufs Meer, das wusste er, und das akzeptierte er. Wie lange hätte sie es auf dem Festland ausgehalten? Wie lange hätte sie die trockene Krankenhausluft ertragen können? Höchstens vier Wochen schätzte er zu Beginn – und diese vier Wochen waren heute auf den Tag genau vorbei. Hinzu kam, dass sie ihn letzte Woche in eine weiter entfernte Spezialklinik verlegt hatten.
Für einen kurzen Augenblick nahm Thomas das Knackgeräusch der Schallplatte wahr und schaute in Richtung der sich drehenden Scheibe. Im Licht des beleuchteten Plattentellers ließ er sich von der Bewegung mitreißen. Die Umgebung verschwamm zu einer unwirklichen Realität. Thomas beobachtete, wandte sich ab, vergrub sein Gesicht noch tiefer im kleinen Kopfkissen. Direkt daneben lag das größere. Doch er hatte sich schon lange an das kleine gewöhnt.
Morgen würde er aktiv werden, das schwor er sich. Länger konnte und wollte er nicht warten. Er sehnte sich nach ihrem traurigen Gesicht, nach ihrer zärtlich klaren Stimme. Außerdem wollte er ihr die neuesten Informationen über die Zwillinge mitteilen, persönlich. In den letzten Wochen hatte er immer wieder an die junge Novizin gedacht, eine Antwort auf seine E-Mail erhofft: nichts. Vielleicht war die Nachricht bei ihr nie angekommen – ein zu streng eingestellter Spam-Filter des Klostercomputers. Thomas machte sich Hoffnung. Es gab sicher eine einfache Erklärung für ihr Schweigen. Auf das Zuschicken der Zeitschrift hatte sie ja schließlich überaus herzlich reagiert.
Rrrringgg …
Thomas schreckte auf und streckte seine Hand in die Richtung, von der der rustikale Klingelton erklang. Sekunden später drückte er auf das Hörersymbol, sein Handy eng ans Ohr.
»Thomas Schlund … Hallo!«
»DU Thomas, ICH Freund!«
Thomas musste schmunzeln. Nur zu gut erkannte er die Stimme des ehemaligen Kommissars: Wilfried Schmidt, immer für einen guten Spruch zu haben. Der beste Freund seines Vaters war auch schon lange sein guter Freund.
»Du, ich hab da was zu unseren Zwillingen gefunden!«
Thomas stöhnte bewusst deutlich auf. »Lass mich raten! Google!«
»Schlauer Junge! Aber mal im Ernst. Ich hab da wirklich was Interessantes entdeckt.« Der alte Mann atmete hörbar. »Du kennst ja mein Motto!«
»Ich weiß, über die Internet-Suchfunktion findet man ALLES, man muss nur lange genug suchen. Dir ist schon klar, dass sich die Kollegen inzwischen über deinen Geheimtipp lustig machen?«
»Verdammt ja! Aber ich hab doch recht! Oder?«
»Eigentlich schon, nur kennt inzwischen jeder diesen geheimen Geheimtipp. Und außerdem gibt es noch die Suchfunktion des internen Polizei-Netzwerks.«
»Ach … du hast also auch was gefunden?«
»Nein, leider nicht.« Thomas schluckte hörbar. »Spaß beiseite. Was hast du? Ich lausche!«
»Bevor ich’s vergesse. Meine Frau lässt lieb grüßen. Sie ist begeistert vom Hof deines Vaters, und die Arbeit macht ihr sehr viel Spaß! Mir übrigens auch! Dein Internetshop ist
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